Reisebilanz I: Tops und Flops der „Saison 2023/24“

Mit dem Fokus auf die Opernhäuser im Rheinland haben wir das Ende unserer Bilanzen zu einzelnen Häusern und Regionen erreicht. Wie im vergangenen Jahr präsentieren wir nun wieder Bilanzen von Kritikern, die im Laufe einer Spielzeit gezielt zu einzelnen, vielversprechenden Produktionen im In- und Ausland reisen. Den Anfang macht eine Rundblick über kleinere und mittlere Häuser, die – wie sich zeigt – oft zu Unrecht im Schatten der großen Bühnen stehen.


Beste Produktion (Gesamtleistung):
Erwartung/Im Wald (Schönberg/Smyth) am Opernhaus Wuppertal
Der Mut der neuen Opernchefin Rebekah Rota hat es möglich gemacht, zwei kaum gespielte moderne Werke auf den Spielplan zu nehmen, die von der kongenialen Regie von Manuel Schmitt miteinander verwoben wurden. Herausgekommen ist eine echte Entdeckung. Der spannende Opernabend macht neugierig auf mehr: von Frau Smyth, von Herrn Schmitt und vom Wuppertaler Opernensemble.

Größte Enttäuschung:
Otello am Staatstheater Darmstadt
Die Chance, die Kunstgattung der Oper mittels moderner Medien und Beteiligung des Publikums einem jüngeren Zuschauerkreis zugänglich zu machen, wurde vertan. Die Ideen von Paul-Georg Dittrich gehen dabei nicht nur zu Lasten von Verdis Meisterwerk, denn das Konzept eines Computerspiels geht hinten und vorne nicht auf – vielmehr führt die Regie im Tilt-Modus noch dazu, dass von einem niemand spricht: der außergewöhnlich guten musikalischen Seite dieser Produktion. Buh!

Entdeckung des Jahres:
Brodeck in Antwerpen
Moderne Oper ist nur was für Schräghörer und verschwindet nach einer Produktion ohnehin wieder in der Versenkung? Hoffentlich nicht Brodeck von Daan Janssens nach dem Roman von Philippe Claudel. Die Oper behandelt das höchstaktuelle Thema Fremdenhass und packt es in spannungsgeladene Musik. Diesem Werk sei das Entdecktwerden an anderen Opernhäusern ausdrücklich gewünscht!

Beste Gesangsleistung (Hauptpartie):

  • Ensemblemitglied:
    James Edgar Knight als Peter Grimes in Theater Osnabrück
    Eine intensivere Sängerdarstellung durfte ich in der vergangenen Spielzeit nirgends erleben. James Edgar Knight jagt mich von Gänsehaut zu Gänsehaut. Wie schade, dass man dieses Sängertalent nach nur drei Jahren nicht mehr in Osnabrück halten wollte oder konnte. Ich bin gespannt, wo der australische Sänger wieder auftaucht.
  • Gast:
    Susanne Serfling als Salome am MiR
    Susanne Serfling ist bekannt für ihre Darstellungen bis hin zur Selbstaufgabe. Mit der Salome hat sie eine Rolle gefunden, die eigentlich jeder Interpretin genau das abverlangt und die so viele scheitern lässt. Susanne Serfling bei der Verkörperung der Salome zuzusehen, ist hingegen höchstes Glück.

Beste Gesangsleistung (Nebenrolle):
Olivier Trommenschlager in der Zauberflöte in Lüttich (Monostratos)
Olivier Trommenschlager ist eine Rampensau im besten Wortsinne und verfügt dazu über einen farbenreichen Tenor. Von seiner mitreißenden Darstellung des Monostratos wollte ich keine Sekunde verpassen.

Nachwuchssänger des Jahres:
Adolfo Corrado in I Capuleti e i Montecchi in Lüttich (Lorenzo)
Der junge Adolfo Corrado macht die Basspartie des Lorenzo in Bellinis Capuleti e Montecchi zum Hinhörer. Kein Wunder, dass man den jungen Italiener mit Preisen überhäuft.

Rollendebüt des Jahres:
Gabriele Mangione als Kalaf in der Detmolder Turandot
Der junge italienische Tenor Gabriele Mangione präsentiert schon bei seinem ersten Auftritt Puccinis letzte große Tenorpartie mit Nonchalance und augenscheinlicher Leichtigkeit, zeigt ein ausgeklügeltes Rollenportrait voller Farben und Emotion.

Beste Wiederaufnahme:
Les Pêcheurs de Perles in Antwerpen
Auch nach fünf Jahren hat die Produktion von FC Bergman nichts von ihrer Kraft verloren, zeigt eindrücklich, dass moderne Regie dazu führen kann, dass ein Werk erst sein ganzes Potenzial entfaltet. Wer sich davon überzeugen will, kann das im Mai 2025 am Staatstheater Wiesbaden tun.

Bestes Dirigat:
Leonardo Sinis Carmen in Lüttich
Oft Gehörtem neue Aspekte abzugewinnen, ist eine große Kunst. Leonardo Sinis lebendiges Dirigat geht sogar noch darüber hinaus, präsentiert die andernorts gerne lieb- und leidenschaftslos heruntergespielte Partitur lebendig und voller Feuer – auch jenseits von Habanera und Toreromarsch – und lässt mich Bizets Carmen gewissermaßen neu entdecken.

Beste Regie:
Manuel Schmitt
Der junge Regisseur hat mich gleich mit zwei Produktionen tief beeindruckt. Seine intensive Lesart der Salome in Gelsenkirchen und die Verschmelzung von Schönbergs Erwartung mit Ethel Smyths Im Wald in Wuppertal gehören gleichermaßen zu meinen Highlights der Saison 2023/24 – das ist lebendiges Regie-Theater at its best.

Bestes Bühnenbild/beste Kostüme (Komödie):
Michiel Dijkema und Jula Reindell (Il Viaggio a Reims in Aachen)
Regisseur Michiel Dijkema treibt die Absurdität der Rossini’schen Opernhandlung auf die Spitze, lässt die Reisenden im Stau stranden und findet damit eine geniale szenische Umsetzung. Jula Reindell tut ein Übriges, dem Publikum mithilfe der teils grotesken Kostüme jede Menge Lacher zu entlocken.

Bestes Bühnenbild/beste Kostüme (Drama):
Daniela Kerck, Astrid Steiner, Andrea Schmidt-Futterer und Frank Schönwald (Turandot in Wiesbaden)
Daniela Kerck schafft mit Hilfe der stimmungsvollen Videoinstallationen von Astrid Steiner eine stimmige Kulisse und lässt Geschichte und Entstehungsgeschichte verschmelzen. Andrea Schmidt-Futterer und Frank Schönwald bedienen mit ihren Kostümen die chinesische Märchenwelt ebenso wie Puccinis Kleidungsstil der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts und schaffen so gekonnt eine Brücke zwischen beiden Erzählsträngen.

Größtes Ärgernis:
Überambitionierte Regie, die aus Selbstzweck selbst den seelenvollsten Werken die Energie raubt wie im Essener Macbeth (Emily Hehl) oder der Aachener Bohéme (Blanka Rádóczy)


Es reiste für Sie Jochen Rüth.