Tops und Flops – „Bilanz der Saison 2022/23“ eines fahrenden Kritikers

„Heute hier, morgen dort“. Das könnte das Motto unseres wohl weitestgereisten Kritikers sein, der seine Leser unverdrossen mit „Lieber Opernfreund-Freund“ anredet. Von Kopenhagen im Norden bis Cagliari im Süden reicht seine Reiseroute. Unterwegs hat er mit Freiberg, Gießen, Koblenz und Mainz auch viele kleine Häuser im Blick. Nicht immer hat er die Zeit für eine Rezension gefunden, aber immer hat er eine knackige Meinung zum Dargebotenen, die gerne auch mal dem Eindruck des Chefredakteurs widerspricht (folgen Sie den Links um herauszufinden, was gemeint ist). Heute also nach einer „klassischen Bilanz“ zur Deutschen Oper am Rhein nun die Bilanz eines fahrenden Kritikers. Morgen geht es klassisch weiter mit Gelsenkirchen.


© Peter Klier (mit freundlicher Genehmigung des Apfel Verlags, Wien)

Beste Produktion (Gesamtleistung):
Die „Aida“ in Kopenhagen vereint gelungene Aktualisierung in einer durchdachten Regie (Annabel Arden), durch die Bank höchst engagiertes Sängerpersonal und ein klanggewaltiges Dirigat (Paolo Carignani).

Größte Enttäuschung:
Donizettis „Caterina Cornaro“ in der deutschen Erstaufführung nach fast 180 Jahren am Stadttheater Gießen. Uninspirierte Regie und teilweise überforderte Jungsänger werden dem Werk nicht gerecht. Dem Nachwuchs eine Chance – aber nicht so!

Entdeckung des Jahres:
Für die „Gloria“ von Cilea lohnt die Reise nach Cagliari. Auch wenn die Regiearbeit für mich zu den weniger gelungenen meines Opernjahres gehörte, war die Aufführung musikalisch ein echtes Erlebnis.

Beste Gesangsleistung (Hauptpartie):
Raehann Bryce-Davis bei ihrem Rollendebüt als Amneris in der Kopenhagener „Aida“. Mehr Seele habe ich in der vergangenen Saison auf keiner Bühne erlebt.

Beste Gesangsleistung (Nebenrolle):
Ensemblemitglied Khanyiso Gwenxane überzeugt als Red Whiskers im Gelsenkirchener „Billy Budd“ mit strahlendem Tenor und eindrucksvoller Bühnenpräsenz.

Nachwuchssänger des Jahres:
Beomseok Choi zeigt in Freiberg, dass auch jungen Sängern ein fulminantes Rollenportrait des Rigoletto gelingt.

Bestes Dirigat:
Marcus Merkel am Pult der „Traviata“ in Koblenz entlockt der oft gehörten Partitur ungeahnte Nuancen.

Beste Regie:
Michèle Anna De Mey hebt die „La Sonnambula“ in Lüttich auf ein neues Level, indem sie die Handlung nicht nur spielen, sondern parallel auch tanzen lässt.

Bestes Bühnenbild:
Susanne Gschwender verlegt für Verena Stoibers „Le Villi/Pagliacci“-Interpretation in Mainz das Setting in einen Bungalow, der sich zum Hochhaus mausert.

Flops der Saison:
Bei der Raritätenjagd ist nicht jede Entdeckung Gold:
Franchettis „Asrael“ an der Oper Bonn – ausgegraben, die Partitur eigens rekonstruiert und dann von einer überambitionierten Regie in konfuser Psychologisierung erstickt und mit überfordertem Tenor besetzt.
Francesca da Rimini“ von Saverio Mercadante an der Oper Frankfurt – lahme Handlung, einfallslose Musik, Herumstehregie: weckt mich, wenn‘s vorbei ist!


Es reiste für Sie Jochen Rüth.