DER OPERNFREUND - 51.Jahrgang
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im Rokokotheater Schwetzingen     

http://www.theaterheidelberg.de/

 

 

GIULIETTA E ROMEO

Besuchte Aufführung: 15.12.2016

(Premiere: 25.11.2016)

Imposantes Stilgemisch

Wieder einmal wurde einem beim diesjährigen vom Theater der Stadt Heidelberg veranstalteten Winter in Schwetzingen Außergewöhnliches geboten. Seit der Operndirektor des Heidelberger Theaters Heribert Germeshausen im Jahre 2011 die Leitung des Festivals übernommen hat, widmet man sich dort der neapolitanischen Schule. Und das mit großem Erfolg. Auch diese Saison steht mit Niccolò Antonio Zingarellis im Jahre 1796 an der Mailänder Scala uraufgeführter Oper „Giulietta e Romeo“ erneut eine ausgemachte, hoch interessante Rarität auf dem Spielplan.

Emilie Renard (Giulietta), Statisterie

Bei Zingarelli (1753-1837) handelt es sich um einen der letzten Vertreter der neapolitanischen Schule. Sein Name ist einem breiten Publikum heute leider nicht mehr bekannt, höchstens noch als Fußnote in Publikationen über seinen Schüler Bellini, den er um zwei Jahre überlebte. Die Schwetzinger Aufführung von „Giulietta e Romeo“ hat indes in hohem Maße das Zeug dazu, Zingarelli wieder in das Bewusstsein eines breiten Publikums zu bringen. Was einem an diesem Abend geboten wurde, war sehr bemerkenswert. Abgesehen von einer konzertanten Vorstellung bei den diesjährigen Salzburger Pfingstfestspielen war das zuerst sehr erfolgreiche, oft gespielte Werk seit 187 Jahren nicht mehr zu erleben gewesen. Die bislang letzte szenische Aufführung erfolgte im Jahre 1829 in München. Es existieren verschiedene Fassungen von Zingarellis Oper. Nachdem die erstmalige Darbietung ein enormer Erfolg war, wurde sie an zahlreichen Bühnen nachgespielt, dabei aber zahlreichen Änderungen unterworfen. Gemäß damaliger Aufführungstradition floss sogar Musik fremder Komponisten in das Werk ein. Das beste Beispiel dafür ist Romeos äußerst beliebte Arie im dritten Akt „Ombra adorata aspetta“, die nicht von Zingarelli, sondern aus der Feder des Ur-Romeo Girolamo Crescentini stammt und anlässlich der Wiederaufführung der Oper in Reggio Emelia komponiert wurde. Für den Winter in Schwetzingen wurde eine eigenständige Fassung kreiert, die sich aus verschiedenen überlieferten Gestaltungen zusammensetzt und Crescentinis herrlich anzuhörende Einlage einschließt.

Kangmin Justin Kim (Romeo), Emilie Renard (Giulietta)

Die musikalische Ausbeute ist insgesamt recht beachtlich. Sie steigert sich von Akt zu Akt. Insbesondere der zweite und der dritte Aufzug hinterlassen eine nachhaltige Wirkung. Strukturell ist „Giulietta e Romeo“ noch in der Opera Seria verankert. Das belegen unter anderem die beiden Kastratenrollen Romeo und Gilberto, die in Schwetzingen von Countertenören gesungen werden, und das vollständige Fehlen tiefer Männerstimmen. Der Klangeindruck ist indes durchaus nicht seria-typisch. Hier haben wir es bereits mit einem der Klassik angenäherten Orchesterapparat zu tun. Eine gewisse Mozart-Nähe wird deutlich. Bei den Gesangspassagen stehen sich Koloraturen und sehr emotional gehaltene Passagen gegenüber. Tiefschürfende Accompagnato-Rezitative münden in prächtige Arien, Duette und Choreinlagen. Da ahnt man schon den Belcanto. An manchen Stellen ist die Nähe der Musik zu Bellini und Rossini unverkennbar. Auch ein ausgemachtes Expressivo ist mal zu hören. Dieses impsante Stilgemisch macht den großen Reiz des Werkes aus. Man merkt, hier handelt es sich um ein Werk des Übergangs. Bei Felice Venanzoni war Zingarellis Musik in besten Händen. Zusammen mit dem Philharmonischen Orchester Heidelberg präsentierte er es einerseits sehr getragen und gefühlvoll, auf der anderen Seite aber auch recht impulsiv und transparent. Das war eine ganz große Leistung.

Everardo, Emilie Renard (Giulietta), Kangmin Justin Kim (Romeo)

Das Libretto von Giuseppe Maria Foppa geht auf Girolamo Dalla Cortes „Storie di Verona“ (2.Band, Kapitel 10) zurück, die auch Shakespeare als Vorlage dienten. Der große Erfolg, den „Giulietta e Romeo“ von 1796 bis 1829 nicht nur in italienischen Gefilden genoss, war nicht zuletzt der Beliebtheit William Shakespeares zu verdanken. Von dessen Stück weist die Oper einige Abweichungen auf. Der Fokus liegt auf Giulietta. Das Ganze beginnt mit der Feier ihrer Hochzeit mit Teobaldo, der eine Kombination aus Tybalt und Paris darstellt. Schließlich wird der glücklose Bräutigam von Romeo, in den sich Giulietta schlagartig verliebt hat, im Kampf getötet. Eine Balkonszene gibt es in der Oper nicht. Die Trauung des Paares erfolgt im Freien. Sie wird von Gilberto vorgenommen, in der die Personen von Pater Lorenzo und Romeos Freund Mercutio vereinigt sind. Auch das Ende weicht von Shakespeare ab. Giulietta kommt, noch bevor bei Romeo das Gift wirkt, zu sich, und das Paar darf in rührender Weise voneinander Abschied nehmen.

Kangmin Justin Kim (Romeo)

Gelungen ist die Regie von Nadja Loschky und Thomas Wilhelm. Sie inszenieren ohne Verfremdungen klar und geradlinig an dem Werk entlang und warten zudem mit einer ausgefeilten Personenregie auf. Das Bühnenbild von Daniela Kerck ist ständig dunkel ausgeleuchtet und stellt eine Black Box dar, in der immer wieder schwarze Vorhänge zum Einsatz kommen, mit deren Hilfe die Räume geöffnet und geschlossen werden können. Es ist ein düsteres Ambiente, das ganz dem Charakter des Stückes entspricht. Die Kostüme von Violaine Thel sind neutral gehalten, mal modern, mal die Shakespeare-Zeit zitierend. Die Familie Romeos ist in der Oper gänzlich ausgeblendet, was dem Regieteam die Legitimation dafür liefert, neben der eigentlichen Liebesgeschichte das Verhältnis zwischen Giulietta und ihrem Vater Everardo verstärkt in den Vordergrund zu stellen. Dabei wird der Protagonistin von Loschky und Wilhelm ein kindliches Alter Ego zur Seite gestellt, das immer wieder durch die Szene geistert und wohl die Sehnsucht der kaum erwachsenen Giulietta nach ihrer unbeschwerten Kindheit ausdrücken soll. Wenn die kleine Giulietta schließlich einen Luftballon in die Luft steigen lässt, wird deutlich, dass sie sich auf der Schwelle zum Erwachsenwerden mit all seinen Problemen befindet. Teobaldos mit Wolfsköpfen ausgestatteten, rockerartig vorgeführten Gefährten umringen es einmal bedrohlich und versetzen das Kind in Angst. Das kann die erwachsene Giulietta aber nicht daran hindern, sich vor einem abgestürzten Balkon - eine Reminiszenz an Shakespeares Balkon-Szene - unter einer fahles Licht verbreitenden Straßenlaterne mit Romeo zu vermählen. Die schlicht gestaltete Gruft wird schließlich wiederum von schwarzen Gardinen sowie einigen weißen Kerzen dominiert. Das alles machte großen Eindruck

Emilie Renard (Giulietta), Kangmin Justin Kim (Romeo)

Nun zu den gesanglichen Leistungen. Für die Giulietta erwies sich Emilie Renard als gute Besetzung. Ihr strahlkräftiger, bis in die Höhe sicher geführter Mezzosopran, der sowohl über eine ausgemachte Flexibilität als auch über hohen emotionalen Ausdruck verfügt, war sehr ansprechend. Neben ihr bewährte sich in der Partie des Romeo Kangmin Justin Kim, dessen Countertenor wie ein solider, gut fokussierter Mezzosopran klang. Er begeisterte sowohl mit großer Koloraturgewandtheit als auch mit warm-inniger Tongebung und klarer Linienführung. So ganz anders als so manch andere, auf der Fistelstimme fußende Countertenöre erlebte man auch Terry Wey, den zweiten Vertreter dieser Stimmgattung an diesem Abend, als tiefgründig singenden, noch jungen Gilberto. Darstellerisch eher der Bruder als der Vater Giuliettas war der Everardo von Nicolas Scott. Er und Namwon Huhs Teobaldo hätten indes bei eigentlich angenehmem Tenormaterial noch viel schöner klingen können, wenn ihre Stimmen im Körper verankert gewesen wären. In dieser Hinsicht gab es an Rinnat Moriah, die eine treffliche Matilda war, nicht das Geringste auszusetzen. Prägnant präsentierte sich der von Ines Kaun bestens einstudierte Chor des Theaters und Orchesters Heidelberg.

Fazit: Eine sehr beachtliche Ausgrabung, die hoffentlich in nicht allzu ferner Zukunft auch den Weg auf andere Opernbühnen finden wird.

Ludwig Steinbach, 16.12.2016

Die Bilder stammen von Annemone Taake

 

 

WILDE

Uraufführung am 22.5.2015

Passion im klaustrophobischen Raum

Zum wiederholten Male ist es den Schwetzinger Festspielen gelungen, mit einer bemerkenswerten Uraufführung auf sich aufmerksam zu machen. Die Rede ist von Hèctor Parras neuer Oper „Wilde“, die von dem zahlreich erschienenen Publikum vorbehaltlos ohne jeglichen Widerspruch aufgenommen wurde und zu einem großen Erfolg für alle Beteiligten geriet. Am Ende des 100 Minuten andauernden, ohne Pause durchgespielten Abends gab es keine einzige Missfallenskundgebung.

 

Lini Gong (Iris Flick), Ekkehard Abele (Gunter), Marisol Montalvo (Hedy Flick), Mireille Lebel (Angela Flick)

Das von Händl Klaus verfasste, auf sein Theaterstück „(WILDE) Mann mit traurigen Augen“ zurückgehende Libretto ist ungemein starker Natur und steht gleichberechtigt neben der Musik. Legt man sein Augenmerk auf den prägnanten Duktus des Textes, so fällt sehr schnell auf, dass er - bei den Opern von Leon Janacek verhält es sich ähnlich - eine ganz eigene Sprachmelodie aufweist und stark aus dem gesprochenen Wort heraus entwickelt ist. Oftmals nur hastig hingeworfenen Sprachfetzen korrespondieren längere, einfühlsame Passagen. Darüber hinaus ist der Text angefüllt mit mannigfaltigen Äquivokationen. Diese Doppelbödigkeit mancher Stellen mag sich dem einen oder anderen vielleicht nicht in ihrem vollen Ausmaß erschließen, sie prägt das Libretto aber ganz ungemein. Nicht zuletzt dieser Sprachstil lässt es abwechslungsreich und kurzweilig erscheinen.

Ekkehard Abele (Gunter)

Parra misst den doppelsinnigen Worten musikalisch zentrale Relevanz zu, indem er das Tempo auf ihnen gleichsam etwas anhält und die jeweilige Stelle gekonnt mit einem retardierenden Moment versieht. Damit gelingt es ihm, die Aufmerksamkeit des Zuhörers auf diese äquivoken Aussagen zu lenken und deren ironischen Gehalt noch stärker herauszustellen. Insgesamt hat er eine stark der Moderne verhaftete Partitur geschaffen, die neben rein musikalischen Phrasen auch Passagen enthält, die man nur als Geräusch bezeichnen kann. Ein Beispiel dafür bietet bereits der Anfang, an dem man lediglich durch Reibung erzeugte Laute vernimmt, bevor sich schließlich immer mehr musikalische Fetzen ihren Weg bahnen. Dem Komponisten gelingen treffliche musikalische Charakterisierungen, wobei er neben vielfältigen „neuen“ Tönen auch Altbewährtes aufgreift. Dazu gehören eine an manchen Stellen strenge Chromatik sowie eine durch Countertenor-Stimme und Koloraturen erzeugte Huldigung an das Barockzeitalter. Zudem operiert Parra oft mit gewaltigen, die gesamte Bandbreite der Dynamik ausschöpfenden Gegensätzen vom mächtigsten Fortissimo bis zum zartesten Pianissimo und oftmaligen extremen Intervallsprüngen. Es ist ein harmonisch sehr kompliziertes Konglomerat, mit dem er hier aufwartet, dabei das Melodiöse aber nicht vernachlässigt. Die eine oder andere Passage wies durchaus schöne Lyrismen auf. Am Ende des zweiten Aktes wird eine wunderbare romantische Kunstliedart gepflegt und u. A. Schumanns „Mondnacht“ zitiert. In erster Linie diesen Gegensätzen ist es zu verdanken, dass die Musik spannungsreich und intensiv wirkte.

 

Ekkehard Abele (Gunter), Bernhard Landauer (Emil Flick)

Ein Fakt, an dem auch Peter Rundel und das hoch konzentriert aufspielende Radio-Sinfonieorchester Stuttgart großen Anteil hatten. Da wurde sehr präzise und mit großer Prägnanz musiziert, wobei es dem Dirigenten gelang, die verschiedenen Wesenheiten der Partitur trefflich einander gegenüberzustellen. Daraus resultierte ein abgerundeter, in sich geschlossener Klangteppich, dessen ausgeprägte Komplexität indes die Bereitwilligkeit erforderte, sich voll und ganz auf ihn einzulassen. Leicht war diese Musik wahrlich nicht, vermochte aber dennoch für sich einzunehmen, wenn man sich ihr nur mit der nötigen Aufgeschlossenheit näherte. Und das war bei dem Auditorium, wie gesagt, der Fall. Da konnte man sich wirklich nicht beschweren.

Geschildert wird die Geschichte des Arztes Gunter aus Bleibach, der noch vor dem Ziel aus einem stickigen Zug aussteigt, der ihn von einem Einsatz in Moldawien zu seinen Eltern zurückbringen soll. Auf dem Bahnsteig macht er die Bekanntschaft der beiden Brüder Emil und Hanno Flick, die ihn einladen, bei sich und ihren drei Schwestern zu übernachten. Von ihnen sanft genötigt, geht Gunter auf ihr Ansinnen ein und begleitet sie. Unterwegs misshandeln sie mutwillig einen Tankwart, als die Brüder an einer Tankstelle ihren Benzinkanister auffüllen wollen. Im Haus Flick, das Gregor Schneiders „Haus ur“, einem aus hunderten von Häusern zusammengesetzten Kunsthaus (vgl. Programmheft), nachempfunden ist, erwarten sie die Schwestern Hedy, Iris und Angela Flick, denen es ihm Folgenden gelingt, Gunter voll in ihre Fänge zu ziehen. Immer mehr erzählt er ihnen von seiner Vergangenheit, dem Krieg, dem Elend und seiner eigenen Sicht der Dinge. Die Tatsache, dass es ihm oft nicht gelungen ist, Kranke und Wunden zu heilen, hat bei ihm zu einem Trauma geführt, das er zu bewältigen versucht. Das will ihm nicht so recht gelingen. An den Geschwistern darf er sein ärztliches Können auch unter Beweis stellen.  Als der Vater Wolfgang Flick schließlich heimkehrt, erkennt er in diesem den zuvor misshandelten Tankwart. Bei Anbruch der Nacht werden Pläne für den nächsten Tag geschmiedet. Man will gemeinsam in die Kirche gehen, die für ihre Fresken berühmt ist. Darauf freut sich der die Kunst liebende Gunter, der von den Flicks nun ganz und gar vereinnahmt wird. In ihm, dessen Eltern sich als tot herausstellen, haben sie ein neues Familienmitglied gefunden.

Es ist eine nicht immer real anmutende Geschichte, die hier erzählt wird. Dem Surrealen, Fiktiven sind gleichermaßen Tür und Tor geöffnet. Erkennbar wird: Die Handlung stellt einen Streifzug durch die Seele Gunters dar und erschließt sich dem Zuschauer gleichsam als Albtraum des Protagonisten. Die Stadt, in der sich das Geschehen abspielt, ist ebenfalls nur Ausfluss der Phantasie des hier gestrandeten Arztes ohne Grenzen. Aus seiner Wahrnehmung heraus wird das Ganze erzählt. Diese Reise in sein Inneres wird für Gunter zur Qual. Konsequenterweise deutet Calixto Bieito die Handlung dann auch als Passionsgeschichte, wobei er sich in bildnerischer Hinsicht stark an das Neue Testament anlehnt. So manches von ihm kreierte Bild mahnt stark an die Passion Christi, so z. B. Geißelung und Kreuzigung. Das von Bieito und Susanne Gschwender entworfene Bühnenbild stellt ein mehrstöckiges, spitz und bedrohlich über den an diesem Abend seiner Funktion enthobenen Orchestergraben - die Musiker sind in den hinteren linken Bereich der Bühne verbannt - ragendes Gebäude dar. Aus diesem gibt es für die von Sophia Schneider eingekleideten Handlungsträger kein Entrinnen. Der klaustrophobische Charakter des Hauses zieht Gewalttätigkeiten unter den Beteiligten, die auch mal die Ebene wechseln dürfen, nach sich und setzt in hohem Maße sexuelle Begierden frei. Hier ist Bieito ganz in seinem Element. Sex and Crime waren schon immer seine Steckenpferde, bei denen er sich genüsslich austoben konnte. Hier ist es nicht anderes. Das kennt man von ihm schon zur Genüge. Und auch die teilweise recht spärliche, blutbesudelte Bekleidung der Beteiligten und bei zwei von ihnen annähernde Nacktheit regen heutzutage eigentlich keinen mehr auf. Hier haben derartige Regieeinfälle überdies einen trefflichen Sinn ergeben, der dem Wesen des Stücks voll entsprach. Das Image eines Skandalregisseurs hat Bieito längst abgelegt. In dieser Beziehung ist er von anderen Inszenatoren bereits übertroffen worden.

Die Sänger/innen sind für ihre mutige Ausführung von Bieitos nicht alltäglichen Regieanweisungen sehr zu loben. Insbesondere der binnen nur zwei Wochen kurzfristig als Gunter aus Bleibach eingesprungene Ekkehard Abele wurde von der Regie stark gefordert. Einen nicht unerheblichen Teil des Abends bewältigte er nur mit einer Unterhose bekleidet. Trotz dieser weitgehenden Textilfreiheit wartete er mit einem ungemein intensiven Spiel auf und beidruckte außerdem mit einer bestens fokussierten, sonoren Baritonstimme. Die bereits erwähnten großen Intervallsprünge und das stetige Hin-und-Her-Pendeln zwischen extrem lauten und extrem leisen Tönen gelangen ihm hervorragend. Neben ihm vermochte insbesondere Mireille Lebel in der Rolle der Angela Flick zu begeistern, die gleich ihm einen guten Teil der Aufführung in blutiger Unterwäsche meistern musste, dabei aber gänzlich ungehemmt mit hervorragend sitzendem, tiefgründigem Mezzosopran auch eindringlich sang. Darstellerisch ebenfalls sehr intensiv agierend und vokal solide gab die Sopranistin Marisol Montalvo die Hedy Flick. Dagegen fiel die die Iris Flick sehr dünn und kopfig singende Lini Gong ab. Eine viel zu hohe Stütze seines Tenors wies auch Vincent Lièvre-Picards Hanno Flick auf, woraus eine sehr flache Tongebung resultierte. Für den Emil Flick war Bernhard Landauer rein schauspielerisch gut gewählt, konnte vokal mit seinem unnatürlich auf der Fistelstimme fußenden Countertenor aber nicht überzeugen. Den Wolfgang Flick spielte ansprechend der Schauspieler Ernst Alisch.

Fazit: Wieder einmal eine sehenswerte neue Oper, die in Koproduktion mit dem Staatstheater Mainz entstand und deren Besuch durchaus empfohlen werden kann.

Ludwig Steinbach, 23.5.2015

Die Bilder stammen von Hans Jörg Michel

 

 

 

 

 

Ausgrabung mit Sinn und Humor modernisiert

Niccolò Jommelli (1714-1774)

FETONTE

Premiere am 28.11.2014

Phaeton (Fetonte) im spätbürgerlichen Milieu; er will nur basteln...

Seit vielen Jahren veranstaltet da Theater Heidelberg die Reihe „Winter in Schwetzingen – Das Barockfest.“ Dieses Jahr stand zum vierten Male das Werk eines neapolitanischen Komponisten auf dem Programm. Niccolò Jommelli hätte wie übrigens auch Christoph Willibald Gluck) im ablaufenden Jahr seinen 300. Geburtstage gefeiert. Zum „Barock“ gehören indes beide Komponisten nicht. Jommelli war einer der berühmtesten Komponisten seiner Zeit. Zu  seinen Lehrern und Förderern gehörte auch Johann Adolf Hasse, womit dann doch ein Bezug zum Spätbarock hergestellt ist. 

Bewunderer von Jommellis Kunst war auch Herzog  Carl Eugen von Württemberg, der ihn 1753 als Hofkapellmeister an den württembergischen Hof holte. Carl Eugen von Württemberg war ebenso despotisch (er ließ Schubart und Schiller wegen Aufmüpfigkeit auf dem Hohenasperg einkerkern) wie verschwenderisch, sorgte aber für einen großen Aufschwung des Musiklebens an seinem Hof. Dort hatte Jommelli eine starke Position – sicher vergleichbar mit der Lullys am Hofe des Sonnenkönigs in Versailles, Vorbild des württembergischen Herzogs. Wie Lully war er auch im Ränkespiel gewandt und soll bewirkt haben, dass Leopold Mozart mit seinem Wolferl 1763 nicht zum Herzog vorgelassen wurde. Später fiel er in Ludwigsburg selber Intrigen zum Opfer und musste dort 1769 seinen Abschied nehmen. Vor allem in Deutschland litt die Jommelli-Rezeption unter der späteren romantischen Bewegung, die alles Welsche aus dem deutschen Musikleben getilgt sehen wollte und alle Fortschritte und Neuerungen der Zeit zwischen Barock und Klassik deutschen Komponisten zuweisen wollte („Was deutsch und echt...“) 

Jomelli hatte bereits 1753 einen „Fetonte“ gewissermaßen als Bewerbungsschreiben für Stuttgart verfasst, schrieb aber die Oper 1768 gänzlich neu. Den Erwartungen des Hofs entsprechend wurde die Uraufführung 11. Februar 1768 zu einem Mega-Spektakel, bei der 436 Statisten, darunter 86 zu Pferde, das Ludwigsburger Hoftheaters bevölkerten. Wenn man das Theaterchen kennt, kann man das selbst unter der Annahme nicht glauben, dass Carl Eugen der einzige Zuschauer gewesen ist.

Philipp Mathmann (Proteo), Rinnat Moriah (Teti), Jeanine de Bique (Climene)

Worum geht es in der Oper? Der Librettist Mattia Verazi hat das „Büchlein“ auf der Basis von Philippe Quinaults Textbuch für Lullys Phaëton (Versailles 1683) geschrieben, der es wiederum der griechischen Mythologie und den Schriften von Ovid entnommen hatte. Es handelt von Phaeton und seinem „Unfall“ mit dem Sonnenwagen seines Vaters, des Sonnengotts Helios. Das Personentableau ist weitgehend identisch, die Handlung weicht aber voQuinaults Original ab. Climene, Königin von Nubien will ihren Sohn Fetonte (Phaeton), den sie vom Sonnengott (Il Sole) empfangen hatte mit ihrer Stieftochter Libia verheiraten. Ihr Mann Merope ist schon verstorben; das junge Paar soll die Herrschaft übernehmen. Um diese und um Libia bzw. Climene bewerben sich mit unterschiedlichen Mitteln und Interessen auch die Könige von Ägypten und Äthiopien, Epafo und Orcane. Dazu treten noch die Meeresgöttin Teti, Mutter von Climene, Fortuna, Il Sole und der Meeresgott Proteo auf. Fetonte will zum Beweis seiner göttlichen Abstammung den Sonnenwagen seines Vaters über den Himmel steuern. Natürlich verunglückt er mit dem Wagen und stirbt inmitten eines katastrophalen Feuers: Libia (nach der das Land Libyen benannt ist), scheidet aus dem Leben.  

Demis Volpi, von „Hause aus“ Choreograf, gibt mit „Fetonte“ sein Debüt als Opernregisseur. „436 Statisten, darunter 86 zu Pferde“ standen ihm nicht zur Verfügung, obwohl die Hinterbühne in Schwetzingen dazu Platz böte. Für seine Lesart des Werks hätte Volpi auch eher 86 Kraftfahrzeuge benötigt, denn mit seiner Inszenierung hat er erwartungsgemäß barockes Illusionstheater weniger im Sinn, sondern er erfand eine Geschichte, die die menschlichen Wesen des Stücks in die Gegenwart verlegen und den Göttern dabei einen Sonderstatus verlieh. Man sieht die Protagonisten in Kluften des späten 20. Jhdts in einem Ambiente, das etwa 100 Jahre früher verzeitet werden kann; eine etwas dekadent wirkende Industriellenfamilie etwa in der Villa Hügel. Das Foto von Patriarch Merops in Uniformmantel hängt hinten an der Wand, für seine Witwe Climene hat dieser Mantel Fetisch-Charakter wie der von Agamemnon für seine Tochter Elektra. Die Götter sind in prachtvolle Historienkostüme gekleidet, teilweise mit bizarrer Maske.

Philipp Mathmann (Proteo), Jeanine de Bique (Climene)

Szenographie und Kostüme hat die Ausstatterin Katharine Schlipf bereitgestellt, der vor allem für das grandiose Bühnenbild ein Kompliment zu machen ist. Man fragt sich zu Beginn, warum für die Ausstattung die im Programmheft genannten Förderer erforderlich waren, denn man sieht nur einige schwarze Elemente auf der Bühne aufragen. Im Laufe des Spiels werden diese Elemente von einem gottähnlich ausgestatteten hilfreichen Geist aber einzeln umgedreht und setzen das Bühnenbild des ersten Akts zusammen: ein Schreibzimmer mit Bücherregal, eine moderne Sitzgarnitur, den Salon mit riesiger Hausbar; alles in bühnenhohen Holzelementen in Neorenaissance von riesigen weit vorkragenden Schrankkränzen oben begrenzt. Die großbürgerliche Welt um1900. Fetonte ist ein zurückhaltender schwärmerischer Junge; der ist für eine „Thronfolge“ gewiss nicht geeignet. Vielmehr arbeitet er an einem Projekt „Ikaros“ und  möchte mit eigenen Flügeln fliegen, womit die Regie ihren modernen Ansatz geschickt mit der Antike verbindet.  Näherliegend wäre ja, dass der Nachwunschs sich in einem Porsche das Genick bricht, aber das wäre weniger beziehungsreich. Seine Mutter trägt unter dem besagten Mantel den Hosenanzug einer modernen Managerin (keine Quotenfrau). Libia ist ein gut erzogenes hübsches Mädchen. Die beiden exotischen Könige Orcane und Epafo vermitteln den Eindruck als seien sie Freier wie anno dunnemals bei Penelope. Sie haben sich einfach bei Climene eingerichtet; Orcane als geschniegelter Vollkaufmann, Epafo indes eher eine Art verrückter Modeschöpfer mit Haarschwanz, dem man auch zutrauen würde, mal eine Linie zu sniffen.

Elisabeth Auerbach (Libia), Antonio Giovannini (Fetonte)

Die Möbel rückt ein gottähnlich ausgestatteter Statist zurecht und erinnert so daran, dass im Leben nicht alles den Menschen selbst überlassen ist. Diese originelle Setzung zusammen mit einer interessanten und stringenten Personenführung hilft dem Zuschauer über gewisse Längen im ersten Teil der Oper. Nach der Pause, die in den zweiten Akt gelegt wurde, wurde das Geschehen auf der Bühne deutlich lebendiger, was auch für die Musik zutrifft. Die Bühne ist nun zu einem großen holzgetäfelten Salon ohne Einbauten umgewandelt, in welchem in heiter-munterem Klamauk die Handlung ihrem tragischen Ende entgegen eilt. Entgegen den Versuchen der Götter, das Unheil aufzuhalten, setzen sich die Menschen mit ihrem Willen bzw. Marotten durch. Somit gelang es der Regie, das nicht besonders interessante Libretto szenisch ansprechend aufzumischen. Dass Fetonte sich mit seinen selbst angepassten Flügeln an der Sonne verbrenntund nicht mit dem glühenden Sonnenwagen die Erde vernichtet, ist ein für die Menschen positiver Aspekt der Inszenierung, die noch mit vielen Einfällen und viel Humor aufwartet.

Jeanine de Bique (Climene), Namwon Huh (Orcane)

Jommelli wurde auch als der italienische Gluck bezeichnet, weil auch er etliche Barockzöpfe in der Oper abschnitt. Während sein deutscher Zeitgenosse aber mit Calzabigi einen kongenialen Literaten an seiner Seite hat (nach Ulrich Schreiber die eigentlich treibende Figur der Opernreform), musste sich Jommelli mit rein musikalischen Mitteln auseinandersetzen, was - wie auch in diesem Fetonte - dazu führte, dass er den Formenkanon des Barock noch länger mit sich herumschleppte und seine Musik, die stilistisch näher beim jungen Mozart angesiedelt ist als bei Gluck nicht im erforderlichen Maße mit dem Text amalgamierte. Jommellis Stil ist auch nicht der der galanten Zeit, sondern er ist eigenständig. Das machte zumindest das Dirigat von Felice Venanzoni deutlich, der sich vom Korrepetitor und Studienleiter an der Frankfurter Oper durch seine Spezialisierung auf alte Musik zu einem gefragten Dirigenten alter Musik entwickelt hat. Die Musik klang teilweise ruppig und stets ungalant. Venanzoni setzte mit dem konzentriert aufspielenden Philharmonischen Orchester Heidelberg eine große Spannweite der Musik ins Werk, kam - vor allem im dritten Akt – zu aufwallender Energiefreisetzung und lotete die Dynamik der Partitur aus. Schließlich ist Jommelli Miterfinder der stufenlosen Dynamik! 

Bei den Sängern ergab sich ein durchwachsenes Bild in den teilweise sehr langen Arien des Stücks. Etwas unbeholfen im Spiel (vielleicht von der Regie für den versponnenen Fetonte so gewollt?), aber unbestritten im Gesang zeigte sich Antonio Giovannini als Gast. Sein recht natürlich wirkender Countertenor war schön fokussiert  und gut verständlich, sauber in der Stimmführung und von nuancierten Farben im Ausdruck. Mit dem noch nicht 30-jährigen Philipp Mathmann stellte sich ein ganz großes Talent als hoch gelegener Counter vor. Er erstaunte mit seiner ganz klaren, leuchtenden Stimme schon im ersten Akt als Proteo und setzte aus dem Off singend als Il Sole  fast überirisch klingend da noch einen drauf. Deutlich tiefer und mit seinem tenoralen Timbre gut geerdet sang Artem Crutko, der dritte Counter, den Epafo. Die einzige männliche „Naturstimme“ gehörte Namwon Huh in der Rolle des Orcane, der indes mit seiner Enge in den hohen Passagen gegenüber seinen Counter-Kollegen abfiel.

Artem Krutko (Epafo), Jeanine de Bique (Climene), Namwon Huh (Orcane), Elisabeth Auerbach (Libia), Antonio Giovannini (Fetonte)

Bei den Damen hatte es Rinnat Moriah mit ihrer Auftrittsarie als Meeresgöttin Teti besonders schwer. Gleich zu Beginn der Oper von ihrer Tochter Climene angerufen, wurde sie mit einem beeindruckend überdimensionalen Rock fast bis an den Bühnenhimmel hinaufgezogen und sang dort oben ihre sehr virtuose Koloraturarie, bei der ihr die Anspannung durch Premiere und die Extremposition doch deutlich anzumerken war. Ihren glockenhellen silbrigen Sopran brachte sie in ihrem zweiten Auftritt als Fortuna im Duett sehr viel schöner zum Klingen. Königin des Gesangs indes war die Sopranistin Jeanine de Bique aus Trinidad als Gast, die mit überzeugender Bühnenpräsenz eine sehr facettenreiche Climene spielte und sang und ihren reichen Sopran von gekonnten Koloraturen bis hin zum Dramatischen einsetzte. Als Libia ließ Elisabeth Auerbach mit schlankem und jugendlichem Mezzosopran nichts anbrennen und punktete auch in der Darstellung des opferbereiten Mädchens. 

Sicher gibt es stärkere Stücke als Fetonte; aber man kann sich für das Stück kaum eine stärkere Inszenierung vorstellen. Zusammen mit der musikalischen Seite war das ein sehr gelungener Abend, den die Zuschauer mit großem und lang anhaltendem Beifall bedachten. Man sah beim Herausgehen nur gelöste Gesichter. Fetonte kommt wieder am 8. und 11.12. und dann bis zum 23. Januar noch weitere sechs Male. 

Manfred Langer, 29.11.2014                                    Fotos: Annemone Taake

 

 

 

 

Ausgrabung auf modern

IPHIGENIE AUF TAURIS  (Ifigenia in Tauride)

Tommaso Traetta (1727 - 1779)

Aufführung des Theater und Orchester Heidelberg im Rokokotheater Schwetzingen                  

Premiere am 15.12.2013

Psychologische Tableaus statt antiker Tragödienhandlung

Das Theater Heidelberg thematisiert in der Reihe Winter in Schwetzingen nach dem Auslaufen der Vivaldi-Serie nun die opera napoletana, in deren Nachfolge Tommaso Traettas Ifigenia mit ihren Reformansätzen steht: Straffung und Glättung der Handlung, kürzere Rezitative, dramatische Chöre. Tommaso Traetta war ein um zehn Jahre jüngerer Zeitgenosse Glucks. Etwa 40 Werke umfasst sein Opernschaffen und damit fast so viele wie das von Gluck, mit dem man ihn von allen Zeitgenossen der Frühklassik wohl am besten vergleichen kann. Seine nun als Deutsche Erstaufführung vorgestellte Oper Iphigenie auf Tauris (Ifigenia in Tauride) hatte 1763 am gleichen Ort Premiere wie ein Jahr zuvor Glucks erste große Reformoper Orfeo ed Euridice. Zur weiteren Einordnung: Händel hat seine letzte Oper 1741 vorgestellt und dann bis 1757 noch ein gutes Dutzend Handlungsoratorien geschrieben, die inzwischen fast alle auch als Opern herausgekommen sind. Johann Christian Bachs Opernschaffen begann 1760 noch in Italien. Das von Haydn 1762, allerdings mit komischen Opern. Da kam in sehr kurzer Zeit sehr viel zusammen. Traetta war wie Gluck ein Reisender in Sachen Musik und Oper. Er wirkte in Parma, Venedig, Wien und Sankt Petersburg und erhielt Opernaufträge auch aus Mannheim. Wenn man aber heute in operabase im Dreijahresrahmen nachschaut, wird die Heidelberger Produktion als einziger Traetta-Titel aufgeführt. 

Rinnat Moriah (Doris), Aleksandra Zamojska (Iphigenie) und Chor

Der Stoff von Iphigenie auf Tauris  war seinerzeit populär, in den hundert Jahren vor 1779 waren mindestens sechs Theaterstücke und dreizehn Opern über die Geschwister Iphigenie und Orestes auf Tauris erschienen; erst 1779, im Todesjahr Traettas, erschien Glucks Iphigénie en Tauride in Paris, die bis heute ihren festen Platz auf den Spielplänen der Opernhäuser behalten hat. Goethes erste Fassung der Iphigenie auf Tauris hatte ebenfalls 1779 Premiere, entfernte sich aber deutlich von der Handlung in der griechischen Mythologie. Traettas Librettist Marco Coltellini ordnet den Stoff etwas abweichend. Neben den vier Hauptpersonen der Handlung führt er mit Doris eine Vertraute Iphigenies ein, die die Handlung vorantreibt. Orest befindet sich mit seinem Begleiter Pylades auf der Flucht vor den Erinnyen und ist vom Orakel nach Tauris zu den wilden Skythen geschickt worden, wo er – um Frieden zu finden – die heilige Statue aus dem Tempel rauben sollte. Thoas, der finstere Skythenfürst, will alle auf der Insel Landenden von Iphigenie (die bei dem versuchten Opfer durch Agamemnon von Artemis nach Tauris entrückt wurde und hier im Tempel zur Priesterin wurde) opfern lassen. Doris hilft den Fremden bei ihren Absichten und bei der Flucht. Dennoch werden sie gefasst. Iphigenie erkennt in einer zweiten von Thoas angeordneten Opferszene ihren Bruder, den sie nicht töten kann. So greift Thoas selbst zur Schlachtwaffe. Am Schluss tötet Iphigenie Thoas und kehrt mit ihrem Bruder Orest nach Argos zurück und will sogar die verunsicherten Skythen mitnehmen, um dort den Staat der Zukunft zu bauen.  

Artem Krutko (Orest)

Der Stoff ist voller Konflikte,Verstrickungen und soziokultureller Verhaltensweisen. Die können nicht alle von der Musik und der Regie in einer Oper von etwa 135 Minuten reiner Spieldauer thematisiert werden. Der Regisseur Rudolf Frey ist an den Verstrickungen der antiken Tragödie nicht so interessiert, wie an den modernen soziokulturellen Verhaltensweisen, den psychologischen Deutungsmöglichkeiten und den problematischen Beziehungen zwischen den Handelnden. Bühnenbild, Kostüme und Requisiten verweisen auf die unmittelbare Jetztzeit, aber es wird keine in die Jetztzeit verlegte Handlung erzählt, sondern in einzelnen Tableaus die jeweilige Problemsituation vertieft. Dass der Handlungsablauf den Intentionen der Regie angepasst wurde, kann vermutet werden.  

Als Pylades und Orest aus dem Untergrund auftauchen, sehen sie sich vor einer geschlossenen Gesellschaft, die auf dem geschlossenen Zwischenvorhang alle Ankömmlinge per Inschrift mit Todesdrohung begrüßt. Dann öffnet sich der Blick auf die Fassade dessen, was man als Tempel erwartet hätte; es handelt sich aber um einen antiken Triumphbogen (für Thoas?). Später wird diese Kulisse hochgezogen, und man sieht, wo das Geschehen wirklich angesiedelt ist: in einer gesichtslosen großen nach hinten ansteigenden und von Bindern überspannten Lagerhalle. Da werden Bänke, Paletten, Chemieprodukte und euch ein paar Sandsteine (wohl von einer Ausgrabungsstätte rezykliert) aufbewahrt. Zur Erinnyenszene wird als Bühnenprospekt die Hinteransicht eines trostlosen deutschen Einfamilienhauses mit Garten heruntergelassen. Für die beiden Opferszenen wird eine Kabine aus Planen mit einem Altar aufgebaut. Die Bänke dienen dem Volk (d.i. der kleine Chor) als Zuschauerbänke. Der Chor tritt in mancherlei Verkleidungen auf: als einfach und ohne Geschmack gekleidete Spießergesellschaft, als kultischer Club und natürlich auch als die Furien. Bühne und Kostüme sind von Aurel Lenfert. 

 

Artem Krutko (Orest), Aleksandra Zamojska (Iphigenie)

 

 In die Tableaus sind die psychologischen Situationen eingebaut. Iphigenie lebt bei den Skythen in einer gesichtslosen Halle und in einer entsprechenden menschlichen Gesellschaft ohne Liebe. Erwachsen geworden und unter Liebesentzug leidend, hat sie sich zum Ersatz  viele Schuhkartons mit Inhalt angeeignet. Zudem hat sie von Argos ihren Schulranzen mit ein paar Plüschtieren mitgenommen. Dass Thoas ihr eines davon bösartig zerfetzt, wundert nicht. Orests Alptraum sind die Erinnyen. Als die auf ihn eindringen, erscheint Klytemnästra mit ihm als Knaben: das waren die glückliche Zeiten, als seine Mutter ihn noch nicht verstoßen hatte. Als zum Schluss Iphigenie den Thoas mit einem Revolver erschießt, wenn der gerade Orest abschlachten will, kommt ein Schuss Bühnenblut aus dem Bühnenhimmel. Iphigenie ist zur „Mörderin“ geworden; ihr Verstand setzt aus. Alle sind bekleckert. Mit so einer Truppe wird es schwer, die Gesellschaft der Zukunft aufzubauen. Es wird den Zuschauern schwer gemacht, das alles zu verstehen, wenn sie nur den Iphigenie-Mythos kennen. 

Artem Krutko (Orest) und Chor

Eingängiger ist die Musik. Für die deutsche Erstaufführung des seit zwei Jahrhunderten nicht mehr gespielten Werks haben Wolfgang Katschner und Gerd Amelung eine neue Fassung erarbeitet. Katschner, ein ausgewiesener Spezialist für alte Musik, Gründer und Leiter der Berliner Lautten Compagney, trat ohne sein angestammtes Orchester auf und leitete ein spezialisiertes Ensemble des Philharmonischen Orchesters Heidelberg, das seine Aufgabe an diesem Abend glänzend erledigte. Das Rückgrat der Musik sind die satten Streichbegleitungen, nicht so energisch wie beim Gluck, aber vielfach in dramatischem Duktus der Linien, manchmal auch nur rhythmisch und harmonisch begleitend. Dazu kommen motivisch unabhängige Bläsereinsätze;  vor allem mit einem ganzen Spektrums von Oboen und den Flöten wird dem Gesamtklang Farbe verliehen, gekonnte Fagott-Einwürfe geben Abwechslung. Bei teilweise ehrgeizigem Tempo wurden die Hörner Anforderungen gestellt, die sie selbst mit Originalinstrumenten tadellos bewältigten. Mit zu den schönsten Klangerlebnissen trug der kleine gemischte Chor mit schöner Präzision und guter Artikulation bei (Choreinstudierung: Jan Schweiger/Ursula Stigloher).  In dem kleinen Theaterraum hätte man indes insgesamt etwas leiser musizieren und im piano ausdifferenzieren können. 

Namwon Huh (Thoas)

Das trifft auch auf die überaus jungen Solisten zu, die ihr Volumen zum Teil erst im Verlaufe des dreiaktigen Werks an die Erfordernisse des Raums anpassten. Vor allem Irina Simmes in der Hosenrolle des Pilade forcierte bei ihrer ersten Arie unnötig und wirkte ziemlich scharf. Im Verlauf brachte sie aber ihr helles Sopranmaterial besser dosiert ein und gefiel mit ihrer sauberen Linienführung. Mit Artem Krutko aus Russland erlaubt sich das Theater Heidelberg einen Countertenor im eigenen Ensemble. Er überzeugte schauspielerisch als von Todessehnsucht umfangener und von Alpträumen (Furien) geplagter Oreste, den er stimmlich mit seinem dunklen, ebenso geschmeidigen wie kraftvollen Altus sang. Die polnische Sopranistin Aleksandra Zamojska vom Freiburger Ensemble in dieser Spielzeit nach Heidelberg gekommen, war in der Titelrolle zu hören. Als gefangene Favoritin des Toante vom Volk nicht geliebt, gefangen auch als Priesterin wirkte sie im Spiel etwas unterkühlt und gab die Tragödin.  Ihr warm timbrierter, runder Sopran gefiel mit kräftigen Höhen und guter Koloraturfestigkeit. Rinnat Moriah, ebenfalls frisch im Heidelberger Ensemble, gab die Dori, die vom Rollenprofil her am besten geerdete Person. Ebenso beweglich wie ihr Spiel war ihr klarer, wendiger und schlanker Sopran. An die spätere Operntradition  gewöhnt, würde man für die Rolle des Bösewichts Toante (Thoas) eine tiefe Männerstimme erwarten. Nicht so im italienische settecento: hier ist es ein Tenor, den der zierliche Koreaner Nameon Huh als gefühlskalten, schleichenden Tyrannen gab, dessen Lust auf Iphigenie von der Regie nicht strapaziert wird.  Durchaus passend Huhs helles Tenormaterial mit schlanker Stimmführung und adäquater Koloraturfähigkeit. 

Die knapp 400 Plätze im Schlosstheater waren so gut wie ausverkauft, und es gab für die Darsteller und das Orchester sehr herzlichen Beifall, in den sich für das Regiepaar deutliche Missfallensbekundungen mischten. Im Rahmen des Barock-Winters in Schwetzingen bringt das Theater Heidelberg die Oper bis zum 13.02.2014 noch neun Mal im Rokokotheater. Im Juli 2014 gastiert die Produktion mit Wolfgang Katschners Lautten Compagney  im Rahmen der Internationalen Gluck-Festspiele im Markgrafentheater Erlangen und wird danach Anfang Dezember 2014 in drei Aufführungen beim Kooperationspartner, dem Theater Winterthur – wiederum mit der Lautten Compagney - vorgestellt.  

Manfred Langer, 16.12.2013                                    Fotos: © Florian Merdes

 

 

 

Winter in Schwetzingen 2012/2013

POLIFEMO

(Nicola Antonio Porpora / 1686 – 1768)

Aufführung des Theaters Heidelberg im Rokokotheater 27.12.2012  (Premiere am 07.12.2012)

Zur Entstehung:

Händel als Opernimpresario in London; das haben wir alle schon einmal gehört. Auch dass er gegen ein Konkurrenzunternehmen des Adels antreten musste, die „Opera of the Nobility“, ist weithin ebenso bekannt wie die Tatsache, dass zum Schluss diese wie auch Händels Unternehmen pleite war. Aber nicht, weil es nicht genügend Opern, Theaterräume oder Zuschauer gegeben hätte, sondern weil die Zahl der Spitzensänger, um die sich beide Opernunternehmen rissen, um dem Publikum etwas vorsetzen zu können, so begrenzt war, dass deren Gagenforderungen nicht mehr bezahlbar waren. So war das früher...

Weniger bekannt ist heute der Name von Händels Konkurrenten: Nicola Antonio Porpora, den einige Londoner Adlige, die Aktionäre der Opern AG am Haymarket,  aus Italien gerufen hatten, um ihn gegen Händel antreten zu lassen. Porpora war italienischer Opernkomponist und Gesangslehrer aus Neapel, zu dessen Schülern auch die beiden Superstar-Kastraten Senesino und Farinelli gehört haben sollen, die er nun in London Händel wegverpflichtete. Im Jahr 1735 brachte Händel Ariodante und Alcina heraus, Porpora im Haymarket Theatre den Polifemo. Beide wollten mit immer ausstattungsintensiveren Starproduktionen John Gay’s und Christoph Pepuschs „The Beggar’s Opera“ ausstechen, die als volkstümlicher Gegenentwurf zur italienischen Oper damals einen Erfolg erreichte, der wohl mit Agatha Christies’s „The Mousetrap“ im modernen Londoner Showbusiness verglichen werden kann.

1737 waren die beiden italienischen Operngesellschaften pleite. Porpora ging nach Italien zurück; Händel erschloss sich ein neues Geschäftsfeld mit englisch-sprachigen Handlungsoratorien, deren Erfolg bis heute andauerte. Seine Opern fielen indes fast 200-jährigem Vergessen anheim, bis sie - im letzten Jahrhundert in einer heute noch anhaltenden Händelrenaissance neu entdeckt - wieder überall gespielt werden, wobei gerade Alcina, aber auch Ariodante ganz weit oben auf der Liste stehen. Bei Porporas Polifemo in der Heidelberger Produktion handelt es sich indes um die deutsche Erstaufführung erst nach 277 Jahren. (Im Theater an der Wien kann man die Oper konzertant im Februar nachhören.) Ob Händels Aufführungszahlen allein an der schieren Produktionszahlen der Theater im deutschsprachigen Raum beruhen oder ob die Differenz z.B. zu Porpora, der eine ähnliche Anzahl an Opern geschrieben hat, auf qualitativen Unterschieden der Libretti und der Kompositionen beruhen, darüber mögen Musikwissenschaftler befinden. Hier ist über die Qualität der Heidelberger Polifemo-Aufführung zu berichten.

Der Librettist Paolo Antonio Rolli verarbeitete drei verschiedene Episoden der griechischen Mythologie, davon zwei aus der Odyssee, zu zwei Handlungs“strängen“ mit jeweils einer Personendreieckskonstellation, die  über die Gestalt des Polyphem (Polifemo) verknüpft sind, aber sonst völlig dissoziiert bleiben. Eine der Geschichten ist die von Acis (Aci) und Galatea (schon 1718 von Händel in einer Masque vertont), die andere das Abenteuer, das Odysseus (Ulisse) mit dem Kyklopen zu bestehen hat; in letztere wird die Gestalt der Nymphe Calypso eingewebt, die Ulisse im Gegenzug für Liebesleistungen bei seinem Kampf gegen Polifemo hilft. Man behauptet, dass Rolli und Porpora Handlung und Musik so gestrickt haben, dass letzterer seine teuren Angestellten Senesino und Farinelli als Doppelspitze Aci und Ulisse in einer attraktiven unterhaltsamen Zauberoper dem Publikum präsentieren konnte.  Dramaturgisch ist das nicht besonders gelungen, weil sich kein spannender Handlungsfaden aufbauen lässt, stattdessen ein Werk mit „vermischten Tableaus“ entstanden ist, das sich mehr mit „Zuständen“ als mit  „Vorgängen“ befasst.

Die Ironie siegt: Lieto Fine unter goldenen Konfetti-Schnipseln

Im Schlosstheater Schwetzingen nahm sich nun ein junges Leitungsteam zusammen mit teilweise blutjungen Sängern erfolgreich und inspiriert dieses Werks an. Die Heidelberger Regieassistentin Clara Kalus sprang für die ursprünglich vorgesehene, erkrankte Regisseurin Karoline Gruber ein; die Ausstattung besorgte Sebastian Hannak. Sie setzen das barocke Konzept der „Zauberoper“ modern pointiert, etwas verfremdet und ironisierend um, was ihnen sehr amüsant gelingt. Das Einheitsbühnenbild für die drei Akte besteht aus bühnenhohen mobilen schwarzen Wandelementen, die zur Variation der Spielfläche verschoben werden können und sich hinten zuweilen öffnen, um den Blick auf einen winterlichen Baum freizugeben: eine naturalistisch auflockernde Requisite ohne dramaturgischen Stringenz. In den schwarzen Wänden öffnen sich kleine Spielflächen oder Ausstellungsvitrinen, die jeweils mit Ironie handlungsunterstützende kleine, meist pantomimische Szenen aufzeigen. Hölle und Vulkane sind ein Loch im Bühnenboden; statt wolkiger Soffitten hängen riesige Wattebausche vom Bühnenhimmel herab oder werden an langen Stangen von schwarz gekleideten Statisten hochgehalten. Meereswellen werden mit wallenden blauen Tüchern erzeugt. Zwei mittelgroße Pappmaché-Steine liegen auf dem Boden: man befindet sich vor der Kyklopenhöhle. Die Tötung von Aci durch Polifemo verläuft publikumsschonend in Abwesenheit der Zuschauer, nämlich während der Pause. Das Blenden des Kyklopen wird indes mit einem Schwert im dritten Aufzug vollzogen. Zum lieto fine sind alle wieder quietschvergnügt. Ein Regen aus goldenen Konfettischnipseln geht über die Überlebenden herab, zu denen sich dann die beiden Opfer gesellen und nach hinten abgehen über die riesige Hinterbühne des Theaters: der Baum ist verschwunden, dafür ein kleineres Modell des Schwetzinger Bühnenportals nachgebildet. Sehr schöne Kostüme sorgen für Auflockerung. Zwischen den schwarz gekleideten Statisten macht man als stumme Rolle noch eine ansehnliche, weiß gekleidete Frauengestalt aus: sie ist das schlechte Gewissen des Ulisses, nämlich die Gestalt seiner Penelope – er treibt es indes mit Calypso; entweder weil sie ihm Befreiung von Polifemo versprochen hat – oder einfach nur so...

Am Pult des Philharmonischen Orchesters Heidelberg stand der ausgewiesene Barock-Spezialist Wolfgang Katschner, der den Graben seine Aufgabe mit großer Präzision erledigen ließ. In der nun schon einige Jahre laufenden Barockserie „Schwetzinger Winter“ kommt das Orchester der historisch informierten Aufführungspraxis immer näher. Gastdirigenten wie Katschner leisten dazu ihren Beitrag. Bei Porpora geht es dabei etwas rauer zu. Während Händels Klang von Streichern und Oboen dominiert ist, hat Porpora durchgehend für weitere Blasinstrumente gesetzt und damit schon einen wesentlichen Schritt in den Frühklassizismus markiert. Trompeten und Naturhörner erklingen auch unterlegend in Mischinstrumentation ebenso wie Flöten und Oboen. Das Fagott spielt eine karikierende Solo-Passage. Bei Händel können die Hornisten in der Regel schon nach einem einzigen Einsatz zu einem Glas Bier gehen.

Die Anforderungen an das Sängerensemble sind beachtlich. Porpora gilt als der Erfinder der Bravour-Arie, die über den reinen Schöngesang hinaus auch dramatisch eingesetzt wird. Die Lamenti sind dafür nicht so innig-melodisch angesetzt wie bei Händel. Jakob Huppmann gab den Ulisse als wandernden Popsänger in Lackschuhen und mit Landkarte (auf der Suche nach Ithaka). Anstelle einer Gitarre führte er ein Pappschwert mit sich. Sein schön frei fließender Counter trug ihn durch den Abend. Terry Wey als zweiter Counter kam mit einer viel helleren Stimme daher, die ihm schon nach zwei seiner Arien viele Bravi einbrachten, welche seiner silbrigen Stimme im ganz hohen Register und seinen perfekten Koloraturen galten. Übergänge ins Naturregister gestaltete er leichtgängig. Sein weißes jugendliches Kostüm beglaubigte die Rolle als junger Schäfer. Das menschenfressende mostro (Ungeheuer) Polifemo konnte der der griechische Bariton Haris Andrianos trotz seiner karikiert schreckenerregenden schwarzen Kluft aufgrund seiner Körpergröße nicht so recht glaubhaft machen. Auch ist sein an sich kraftvoller Bariton etwas zu hell für eine solche Gestalt. Die drei weiblichen Sängerdarsteller glänzten durchweg mit ansprechenden Bühnenerscheinungen, die zudem durch die perfekten Kostüme unterstrichen wurden. Die israelische Sopranistin  Rinnat Moriah in türkisenem Rüschenkleid (von dem sich die gierige Polifemo ein Stück herausriss) führte ihren jugendlich-schlanken koloratursicheren Sopran vor, der aber bei Spitzentönen nicht ohne Schärfe war. Tijana Grujic - im eleganten Krinolinenkleid - begeisterte mit ihrer samtigen Mittellage und verführte mit klaren, leuchtenden Höhen als Calipso. Die Nachwuchssopranistin Irina Simmes war mit der kleinen Rolle der Nerea betraut. Die schwache dramaturgische Bedeutung dieser Rolle wurde durch ihre fast stete Bühnenpräsenz ausgeglichen.

Nach Ende der fast dreistündigen Vorstellung (eine Pause) jubelte das Publikum allen Mitwirkenden zu, wobei Terry Wey als Aci in besonderer Weise bedacht wurde; er hatte zuvor schon jubelnden Szenenapplaus bekommen, was ihm sichtlich gut tat. Die Heidelberger Polifemo-Produktion hat auch über die Region hinaus einige Beachtung gefunden. Sie kommt noch am 30.12.2012 in einer Nachmittagsvorstellung, dann noch fünf Mal im Januar.

Manfred Langer, 28.12.2012                                  Fotos: Florian Merdes

 

Winter in Schwetzingen 2011/2012  Veranstaltung von Theater und Orchester Heidelberg

MARCO ATTILIO REGOLO          

Besuchte Aufführung: 11.12.11      (Premiere 25.11.11)    2. Kritik

Bilder weiter unten

Meuchelmord am Prinzip - Mit dem Führungswechsel beim Theater der Stadt Heidelberg hat auch der von diesem ausgerichtete „Winter in Schwetzingen“ eine neue Leitung bekommen. In den folgenden Jahren zeichnen Heribert Germeshausen (Operndirektor in Heidelberg) sowie der aus Argentinien stammende Dirigent Ruben Dubrovsky für die Geschicke dieses ehrwürdigen Barockfestivals verantwortlich, das vor einigen Jahren von Bernd Feuchtner, dem jetzigen Chefdramaturgen am Badischen Staatstheater Karlsruhe, aus der Taufe gehoben wurde. Während Feuchtner auf die venezianische Oper setzte und vorwiegend Werke Vivaldis präsentierte, legen Germeshausen und Dubrovsky den Focus auf die Neapolitanische Oper, um die meisterhaften und teilweise vergessenen Komponisten dieser Ära wieder stärker in das Licht der Öffentlichkeit zu rücken.

Den Anfang machte jetzt die deutsche Erstaufführung von Alessandro Scarlattis bereits im Jahre 1719 in Rom uraufgeführtem Spätwerk „Marco Attilio Regolo“ - Premiere war bereits am 25. November -, das an ein in der Regulus-Sage überliefertes Ereignis während des Ersten Punischen Krieges (264-241 v.Chr.) zwischen Karthago und Rom anknüpft. Eine der herausragendsten Persönlichkeiten dieser militärischen Auseinandersetzung war Marco Attilio Regolo. Er und sein karthagischer Antagonist Amilcare sowie der Spartaner Santippo sind historisch verbürgt. Dagegen sind die drei Frauen Fausta, Emilia und Eraclea allesamt der Phantasie von Scarlatti und seinem Librettisten Matteo Noris entsprungen. Auf einfühlsame Weise wird in der Oper das Schicksal Marco Attilio Regolos besungen, der nach einer verlorenen Schlacht mit Frau und Tochter in karthagische Kriegsgefangen-schaft gerät und von den Siegern nach Rom zurück zu Friedensverhand-lungen gesandt wird. Während seines Aufenthaltes in Rom hat sich sein karthagischer Gegenspieler Amilcare in Marco Attilio Regolos Frau Fausta verliebt, obwohl er eigentlich der sizilianischen Prinzessin - der Streit um Sizilien war der Auslöser des Ersten Punischen Krieges - Eraclea versprochen ist. Er lässt den Rivalen nach dessen Rückkehr gefangen nehmen und befiehlt seine Ermordung. In vorbildlicher Gattentreue bleibt Fausta jedoch letztlich standhaft und zieht es vor, lieber selber den Tod zu suchen als ihr Ehegelübde zu brechen. Aber da gibt es auch noch beider Tochter Emilia, in die sich der am Ende die Seiten wechselnde Santippo verliebt, und die als Mann verkleidete Eraclea, die beide beweisen, dass sie nicht auf den Kopf gefallen sind und die Handlung - zumindest in Scarlattis Original - zu einem guten Ende kommt.

Scarlattis Musik ist für die Barock-Ära erstaunlich modern. Er setzte mit seiner Partitur Akzente, die seiner Zeit weit voraus waren. Wesentliche Bedeutung kommt seinem Umgang mit der Form zu. Es mag damals wohl gegen alle musikalischen Konventionen verstoßen haben, wenn der Komponist den Da-capo-Teil einer Arie unvermittelt mit einem diesen unterbrechenden Rezitativ garnierte oder spielerisch das damals obligate „lieto fine“ stark in die Länge zog. Mit diesen musikdramatischen Neuerungen wurde Scarlatti regelrecht zum Erneuerer einer erstarrten Operntradition. Die von ihm eingeleiteten Reformen wurden in der Folgezeit von anderen Tonsetzern aufgegriffen und weiterentwickelt. Der Musik des „Marco Attlilio Regolo“ kann man sich jedenfalls nur schwer entziehen, insbesondere wenn sie so feurig, prägnant und gut akzentuiert dargeboten wird wie von Festivalleiter Ruben Dubrovsky und dem Philharmonischen Orchester Heidelberg.

 Gesanglich blieben leider einige Wünsche offen. Für die Rollen des Marco Attilio Regolo und des Amilcare wurden die beiden Countertenöre Terry Wey und Antonio Giovannini aufgeboten. Nun ist diese gänzlich unnatürliche, auf der Fistelstimme beruhende Stimmgattung überhaupt nicht mein Fall. Abgesehen davon war Giovannini, der mit einem für diesen Gesangsstil ungewöhnlich männlichen und tiefgründigen Stimmklang aufwartete, um einiges überzeugender als Wey, der nicht nur in den unangenehmen Höhen der Titelfigur ziemlich verweichlicht klang. Sharleen Joynt benötigte als Fausta etwas Zeit, um warm zu werden. Insbesondere die eklatanten Spitzentöne ihrer Partie machten ihr zu Beginn etwas zu schaffen. Das bekam sie im Lauf des Nachmittags zwar einigermaßen in den Griff, konnte aber dennoch rein vokal nicht überzeugen. Die nötige Körperstütze der Stimme ging ihr genauso ab wie dem sehr flach singenden Santippo von Daniel Johannsen. Als Emilia war an diesem 11. Dezember die erst 23jährige Tanja Kuhn zu erleben, die im Augenblick noch an der Musikhochschule in Stuttgart studiert und jetzt zum ersten Mal außerhalb einer Hochschulproduktion auf der Bühne stand und sich dabei recht wacker schlug. Ihr Stimmsitz ist indes noch ziemlich variabel. In der Mittellage wartete sie mit durchaus beachtlichen Tönen auf, die Höhe wirkte dagegen noch zu schlank und wenig gut profundiert. Der sympathischen jungen Sängerin ist zu wünschen, dass sie es schafft, ihren Sopran in allen Lagen in den Körper zu bringen und sich ein schönes appoggiare la voce zuzueignen. Gestützt wird die Stimme gegen das Brustbein bei gleichzeitiger, kaum spürbarer Gegenbewegung. Insgesamt waren die meisten Sänger der Vorstellung von einer italienischen Technik weit entfernt. Über eine solche verfügte nur Hye-Sung Na, die mit vorbildlich focussiertem, ausdrucksstarkem Sopran der Eraclea beträchtliches vokales Gewicht zu geben wusste.

Rein darstellerisch sah die Sache besser aus. In dieser Beziehung bewährten sich alle Sänger glänzend. Das war nicht zuletzt das Verdienst von Eva- Maria-Höckmayr, die man getrost zu den bedeutendsten Nachwuchs-regisseurinnen rechnen kann. Es ist schon phantastisch, wie sie es versteht, die bei anderen Inszenatoren oft in pures, belangloses Rampensingen ausartenden Barock-Arien stringent durchzuinszenieren und dabei immer die Spannung aufrechtzuerhalten. So wurde es nie langweilig auf der von Nina von Essen gestalteten Bühne, die von einem modernen Herrensalon mit einer Tafel und Stühlen aus der Zeit Ludwigs XVI dominiert wird und dessen oberer Teil sich öfters mal in die Lüfte erhebt, wodurch sich das Geschehen auf mehrere Ebenen verteilen kann. Dabei spielt Frau Höckmayr gekonnt mit Tschechow’schen Elementen. Rein technisch ist sie sehr versiert und auch ihr szenischer Ansatzpunkt, eine frappierende Mischung aus Tragik und Komik, war gut durchdacht und überzeugend: Den Marco Attilio Regolo stellt sie mit heutigen Politikern gleich, die nach außen hin den Frieden proklamieren, in Wahrheit aber auf Krieg setzen und macht auch im übrigen deutlich, dass die Probleme der damaligen Zeit auch solche späterer Zeitalter sind. Die Handlung ist an kein bestimmtes Ära gebunden. Dementsprechend lässt sie das Werk in unserer heutigen Zeit spielen und verleiht ihm den zahlreichen burlesken Einschüben zum Trotz den Charakter eines Strind-berg’schen Kammerspiels, in dem der psychologischen Komponente zen- trales Gewicht beigemessen wird. Der Krieg findet in einem privaten Rah- men, gleichsam im Beziehungsgeflecht der Protagonisten statt. Letztere stellt sie ausnahmslos in existentielle Ausnahmesituationen, die intensiv ausgelebt werden. Es ist gleichsam eine Arena der zeitlosen inneren Kon- flikte, die da gekonnt präsentiert wird. Und eine solche findet im Hinter- grund der Bühne auch eine bildliche Entsprechung. Hier geben sich die Protagonisten oftmals ganz ihrer tiefen Verzweiflung hin, führen Statisten stets aufs Neue stereotype Bewegungsmuster von Gefangenschaft, Gewalt und Grausamkeit vor. Letzteres findet während der Arie des eingekerkerten Marco Attilio Regolo im zweiten Akt einen Höhepunkt. Schon zu Beginn ist Fausta an einen Stuhl gefesselt. Wenn sie sich schließlich nach einer ersten Attacke des sie begehrenden Hausherren Amilcare erheben darf, benötigt sie eine Gehhilfe, um sich fortzubewegen. Eine treffliche Versinnbildlichung der latent über dem Ganzen schwebenden Rohheit und Brutalität stellt die auf dem Boden der Arena triefende Blutlache dar, in der sich einige der Hand- lungsträger auch mal sudeln dürfen. Ungemein eindrucksvoll gelingt Frau Höckmayr die letzte Szene, die sie entgegen alter Barock-Manier tragisch enden lässt. Hier wird deutlich, wie sehr die Regisseurin einem damals vorgeschriebenen guten Ende mit Jubel, Trubel, Heiterkeit misstraut. Die wie ein sprungbereiter Panther in dem Arenarund kauernde Emilia kann sich mit dem „lieto fine“ in keinster Weise abfinden. Immer stärker opponiert sie gegen die ihr unehrlich erscheinende Versöhnung der gegnerischen Parteien und metzelt ihre Mitspieler schließlich gnadenlos mit einem Maschinen- gewehr nieder. Dieser Meuchelmord gilt aber weniger den Personen als vielmehr dem fragwürdigen Prinzip eines stets guten Ausgangs bei Barock- opern.

Ludwig Steinbach

 

 

 

MARCO ATTILIO REGOLO

Dramma per musica von Alessandro Scarlatti

Aufführung am 27.11.2011              (Premiere am 25.11.2011)

Regie-Querschüsse gegen ein lieto fine

Für das  Barockfest "Winter in Schwetzingen" produziert das  Theater Heidelberg regelmäßig eine Barockoper zur Aufführung in dem attraktiven Ambiente des Rokokotheaters im Schloss. Wurde in den letzten Jahren zu diesem Anlass jeweils eine Vivaldi-Oper ausgegraben, so begann man in diesem Winter eine neue Reihe mit Werken der venezianischen Oper, vor allem den nur sehr selten anzutreffenden Opern Alessandro Scarlattis. Diese Reihe kann nun allerdings sehr lang werden, denn Scarlatti hat an die 120 Opern geschrieben. Zuletzt wurde im Rahmen der Schwetzinger Festspiele an gleicher Stelle sein Telemaco gegeben.  „Marco Attilio Regolo“ ist ein spätes Werk von Scarlatti, 1719 in Rom uraufgeführt (zehn Jahre nach Händels Triumph mit dessen „Agrippina“ in Venedig) und erlebte mit dieser Ausgrabung seine deutsche Erstaufführung. Rubén Dubrovsky, argentinischer Musikologe und Dirigent des Abends, ließ es sich nicht nehmen, in einem kurzen erhellenden Einführungsvortrag noch bis eine Viertelstunde vor Vorstellungsbeginn das Werk Scarlattis zu erläutern. Er führte u.a. aus, dass die immer noch anhaltende Händel-Beliebtheit ihre Hauptursache in der Tatsache der einfachen Verfügbarkeit von Aufführungsmaterial hat („Da braucht man lediglich im Verlag anzurufen.“), während man sich für Scarlatti-Aufführungen in die Handschriftsarchive bemühen muss und alles selbst zusammenstellen darf.  „Da darf man ja gespannt sein…“ (sage ich als bekennender Händel-Bewunderer). Barock ist nicht gleich Barock!

Copyright aller Bilder: Oper Heidelberg / © Klaus Fröhlich

Die Oper lehnt sich an ein historisches Ereignis aus dem ersten punischen Krieg 255 v. Chr. an. Mit Hilfe des spartanischen Militärberaters Xanthippos (hier: Santippo) besiegt der karthagische Despot Hamilkar (hier: Amilcare) das römische Heer unter Marcus Attilius Regulus, nimmt seine Frau Fausta und seine Tochter Emilia als Geiseln und schickt Regulus zur Aushandlung eines Friedens nach Rom. Indessen hat sich Amilcare in Fausta verguckt und begehrt sie so sehr, dass er seine angereiste Verlobte Eraclea, Prinzessin von Sizilien, nun zum Teufel wünscht. Regolo kommt aus Rom zurück, erklärt, dass er seinen Landsleuten zur Weiterführung des heroischen Kampfes geraten hat, und geht in Gefangenschaft. In einem Spiel mit Verkleidungen, Verwechslungen sind die treibenden Kräfte Ehr-und Ruhmsucht des Regolo, der dafür auch Frau und Tochter opfern würde, Standfestigkeit der Fausta gegenüber Amilcare bis zum Selbstmord; Begierde des Amilcare. Eifer- und Rachsucht der Ericlea gegen Amilcare und die aufkeimende Liebe zwischen dem Teenager Emilia und Santippo, der sich zuletzt gegen Amilcare wendet und die Geschichte zu einem lieto fine bringt, bei welchem sich drei Paare (wieder)finden.

Durch Entkleidung der Handlung von den in Barockopern üblichen komödiantischen Quer-Elementen  hat das Leitungsteam (Dramaturgie: Heribert Germeshausen) die Oper von vier auf drei Stunden reine Spielzeit eingekürzt und die Handlung vereinheitlicht. Doch auch in dieser Fassung verfügt das Werk noch über schleppende Längen, vor allem in den Rezitativen. Zudem wird durch etlichen inszenatorischen Firlefanz der Straffung und Vertiefung wieder entgegen gewirkt. Zu häufig sieht man die gleichen Szenen: Regolo, der wieder und wieder von Nachruhm und Ehre schwadroniert und alle Kompromisse ablehnt, Amilcare der immer wieder Fausta bedrängt, die ihn zurückweist. Eine echte Entwicklung macht Santippo durch, den seine Liebe zu Emilia zum Abfall von Amilcare treibt und natürlich Emilia: vom kindlichen Backfisch (so ist sie eingekleidet) zur potentiellen Rächerin an Amilcare und gar zur Rächerin an der ganzen nutzlosen verlogenen Gesellschaft, die sich drei Stunden lang wie in einem Kammerspiel um die eigene Achse gedreht hat. Mit dem Regie“einfall“, dass Emilia am Ende, gewissermaßen nach einem für den Geschmack der Regisseurin offenbar nicht annehmbaren lieto fine, noch die ganze geschlossene Gesellschaft umnietet, liefert Fau Höckmayr den besten Beweis, dass sie der Überzeugungskraft von drei Stunden szenischem Geschehen selbst nicht traut. Während die Hornisten im Graben auf original alten Instrumenten oder penibel genauen Nachbauten blasen, kann die Regisseurin zum Schluss mit dem Stoff verfahren, wie sie gerade will. Sie sollte keine Barockopern mehr inszenieren (oder noch einmal in die Lehre gehen, z.B. bei Philip Harnoncourt, der ein Rodelinda von Händel überzeugend ins Mafia-Milieu verlegt und dabei sauber am Libretto entlang inszeniert hat).

Dabei führt die Regie zunächst ganz überzeugend in die Handlung hinein. Da sich die personelle Konstellation auch heute so ergeben könnte, wird folgerichtig das Geschehen in die Jetztzeit verlegt und nicht mit Historisieren vom Kern abgelenkt. (Moderne Kostüme von Julia Rösler) Im ersten Bild sitzt in einem großen Speisesaal vor zwei riesigen Türen, die manchmal den Blick auf weitere Säle oder einen Garten freigeben, eine marode Gesellschaft bei Tisch. Hier könnte auch die Mafia zugange sein. Die Louis-XVI-Stühle sind Stilmöbel. Die Statisten gehen, Amilcare unternimmt seinen ersten Angriff auf die am Stuhl gefesselte Fausta. Das erste Ordnungsprinzip wird durchbrochen, indem die Hälfte des Salons auf die halbe Bühnenhöhe hinauf gezogen wird und nun tatsächlich das Spiel auf zwei Ebenen ablaufen kann. (Bühnenbild: Nina von Essen) Das erlaubt kleine panto-mimische Parallelhandlungen und Dopplungen. Später kann es auch in zwei Tiefen ablaufen, denn die Hinterwand wird beiseitegeschoben: im Hintergrund wirken dann aber Statisten an irgendwelchen Szenen herum, über deren Sinn der Zuschauer, der auch noch die Übertitel lesen möchte, während des Fortgangs der Oper natürlich nicht so lange nachdenken kann wie die Regisseurin bei der Konzipierung. Wirkung: ablenkender Firlefanz. Je mehr sich Konflikte verstärken und emotio-nalisieren, desto mehr Stühle fliegen um und umso mehr wird die Bühne vermüllt. Die verfügt hinten links auch noch eine Riesenblutlache (antike Schlachtfelder oder Reste von Untaten der Mafia?). Vier der Protagonisten nehmen hier ein Bad, was jeweils zu einem ganz unglaubwürdigen Verunreinigungsmuster der Kleidung führt. Zum finalen Geschehen findet sich die traurige demontierte Gesellschaft noch einmal am Tisch auf den schnell wieder aufgestellten Stühlen zusammen. Jeder sollte die Seine bekommen, aber eine schießt quer…

So wie die Inszenierung im Verlauf absteigt, geht es mit der musikalischen Ausdeutung im Verlauf bergauf. Rubén Dubrovsky leitet das Ensemble aus dem Philharmonischen Orchester Heidelberg souverän, bringt es nach etwas trockenem Start gut in Fahrt und trägt mit dem leichten und beschwingten Barock-Klang vor allem im zweiten Teil die ganze Aufführung. Die Akustik im Schwetzinger Theater erscheint mir ein wenig trocken; das verstärkt auch den stark handwerklich geprägten Eindruck, den Scarlattis Musik hinterlässt. Zwar ist die Musik von Da-Capo-Arien mit ihren Ritornellen dominiert, verfügt aber auch über eine stattliche Anzahl von Duetten, Terzetten und Ensembles, die das musikalische Geschehen abwechselnd gestalten. Scarlatti scheut hier nicht vor Formbrüchen zurück, um dramatische Effekte zu erreiche. So wird im zweiten Akt eine Arie der Eritrea durch das Hinzutreten der Emilia abgebrochen, es folgt ein rezitativisches Duett, das erwar-tungsgemäß in ein gesungenes Duett übergeleitet wird, welches wiederum vom Hinzutreten des Santippo unterbrochen wird; es folgt ein rezitativisches Terzett und dann ein gesungenes Terzett. Das erzeugt jedes Mal einen dramatischen Aha-Effekt. Mit ähnlichen Effekten arbeitet der Komponist auch im Finale, in welchem zwei Mal das lieto fine gesprengt wird – Wirkung wie ein Trugschluss.

Das Theater Heidelberg bot ein blutjunges Sängerensemble auf, das anfangs darstellerisch ziemlich gehemmt wirkte, aber sich im Verlauf gut einspielte. Auch stimmlich liefen die Sänger fast durchweg in der ersten halben Stunde stimmlich noch nicht richtig rund, was sich im Verlauf besserte, so dass eine insgesamt sehr ansprechende Leistung vermeldet werden kann. Die tiefste Stimme stellte der Tenor Daniel Johannsen als Santippo. Er war mit 33 Jahren der älteste Sänger auf der Bühne und brachte seinen sauber geführten, leichten und hellen Tenor zur Geltung. Hye-Sung Na bezauberte als Ericlea mit ihrem schönen weich und dunkel timbrierten Sopran, im Frack als Mann verkleidet sorgte sie bei den Mitspielern für viel Verwirrung. Ganz mädchenhaft im Auftreten (natürlich!) und gesanglich füllte Annika Sophie Ritlewski die Rolle der Tochter Emilia aus. Für die beiden anderen Männerrollen waren zwei Countertenöre aufgeboten. Das machte sich im Duett nicht besonders gut. Wenn sich die Regisseure alle möglichen Freiheiten nehmen, warum kann da die musikalische Leitung nicht einmal undogmatisch handeln und eine der hohen Männerstimmen zur Abrundung des Gesangsspektrums mit einem Bariton besetzen? Terry Wey bewältigte die sehr hoch liegende Partie des als Marco Attilio Regolo ohne hörbare Anstrengung, klang aber etwas spröde; in der tiefer liegenden Partie des Amilcare bewährte sich Antonio Giovannini, der sich in einigen Passagen zu virtuoser Brillanz aufschwingen konnte. Deutlich und klar kamen bei all diesen Sängern Artikulation und Aussprache heraus. Da hatte Sharlee Joynt als Fausta nicht so gute Karten. Zwar brachte sie nach anfänglichen, sehr angestrengt wirkenden Höhen den Schmelz ihrer Stimme schön zur Geltung; aber die Leichtigkeit in Rezitativen und Aussprache fehlten ihr. Erstaunlich, dass sie sich fürs Koloraturfach entschieden zu haben scheint. 

Fazit: Insgesamt hatte man es aber mit einer guten geschlossenen Ensemble-Leistung zu tun, die nicht mehr weit weg von dem ist, was die Schwetzinger Festspiele bei ihrer jährlichen Barock-Ausgrabung bringen, bei denen die Eintrittspreise über drei Mal höher liegen als beim Stadttheater-Preisniveau des Theaters Heidelberg im Barock-Winter. Es ist auch schön feststellen zu können, dass Theaterleitungen und Publikum erkannt haben, dass die alte Operneinheitskost ausgedient hat. Wenn auch die Qualität der Inszenierung weit hinter dem zurückbleibt, was Eva-Maria Höckmayr vor kurzem in Freiburg mit ihrer Inszenierung des Otello erreicht hat, so kann man dem Musikliebhaber doch empfehlen: hingehen! Das Publikum im so gut wie ausverkauften Schlosstheater bekundete mit seinem herzlichen Beifall, dass es mit dem Gesehenen sehr zufrieden war. Die Oper wird noch bis zum 10.02. 2012 gegeben.          

Manfred Langer, 28.11.2011

 

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