DER OPERNFREUND - 51.Jahrgang
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Ballett Zürich

 

 

Peer Gynt

21.5. (Premiere)

Desweiteren | 24.5. | 26.5. | 27.5. | 29.5. | 2.6. | 3.6. | 16.6. | 17.6. | 18.6. | 24.6.

 

"Seine (Peer Gynts) Geschichte ist, trotz aller romantischen und ironischen Einkleidung, unsere Geschichte, seine Lieblosigkeit ist unsere Lieblosigkeit, seine im Nihilismus des Alters fast wahnsinnige Hoffnung auf die Unsterblichkeit seiner Seele ist auch in uns noch nicht völlig zum Schweigen gekommen ... Für uns wie für ihn ist eine Hoffnung auf Erlösung nur in der Liebe, in der wunderbaren Möglichkeit, dass das Bild, das ein anderer Mensch von uns im Herzen trägt, mehr Liebesbezeugungskraft als die Wirklichkeit besitzt." (Marie Luise Kaschnitz)

 

 

Genau zu diesem Kern der Geschichte nun dringt Edward Clug in seiner Choreografie in stimmungsvollen, tiefgründig-poetischen Bildern vor. Ungleich Peer Gynt, der in seinem allegorischen Zwiebelmonolog den Kern seiner Existenz nicht zu ergründen vermag, schafft Eward Clug in seinem 2015 für das Slowenische Nationalballett entstandenen Tanztheaterstück auf beklemmende und zugleich berührende Art Antworten auf die Fragen nach dem existentiellen Sinn des Lebens zu geben. Selbstverständlich mussten für eine Ballett-Adaption von Ibsens Fünfakter weite Teile der Vorlage gestrichen und gekürzt werden. Doch Edward Clug ist dies auf beeindruckende Art und Weise gelungen: Er fasst die Handlung in zwei Akten zusammen. Diese beiden Akte sind in insgesamt fünf grossflächige Szenen unterteilt. Damit folgt er Ibsens dramatischem Gedicht ziemlich genau. Clug schafft es mit seiner einfallsreichen theatralischen Tanzsprache auch, Ironie und Satire einfliessen zu lassen, an manchen Stellen durfte man schmunzeln, so etwa, wenn er Peer in einen dieser ruckelnden Münz-Flieger einsteigen liess, wie wir sie als Kinder vor den Eingängen der Supermärkte vorfanden. Nur schon mit dieser kleinen Episode zeigte er, wie schwer es dem in der präödipalen Phase steckengebliebenen Peer fällt, erwachsen zu werden. Sehr differenziert gezeichnet ist die Beziehung zu seiner Mutter Åse (eindrücklich dargestellt durch Francesca Dell'Aria), eine Beziehung, die bis zum Tod der Mutter im kleinkindlichen Bereich stecken bleibt (sie versohlt ihm noch auf dem Sterbebett den Hintern). Von Unreife geprägt sind all seine Begegnungen mit weiblichen Wesen: Ingrid (mit aparter Mädchenhaftigkeit getanzt von Michelle Willems) entführt er während ihrer Hochzeit mit Mads (Matthew Knight). Der durchtriebenen Anitra (mit orientalischer Erotik: Raffaelle Queiroz) verfällt er mit unglaublicher Naivität. Aus der Beziehung mit der janusköpfigen Tochter des Trollkönigs (die Grüne, grossartig dargestellt von Inna Bilash) stiehlt er sich klammheimlich, als er Verantwortung für das mit ihr gezeugte Kind übernehmen sollte. Die ihn wirklich aus tiefstem Herzen liebende Solveig (Katja Wünsche tanzt sie mit fantastischer Bühnenpräsenz, weit greifenden Armbewegungen und ausgefeilter Beinarbeit) erkennt er erst als Retterin seiner suchenden Seele, als es schon beinahe zu spät ist. Peer Gynt ist also wie eine dunkler, hedonistischer Stern im Firnament, will umkreist und bewundert werden. Dies spiegelt auch die Bühne von Marko Japelj mit ihrer an einen Saturnring gemahnenden Umrandung. Alles soll sich um Peer drehen, das Schicksal in Form eines weissen Hirsches (kraftstrotzend-elegant: Cohen Aitchison-Dugas) und der Tod (herrlich affektiert und slapstickartig trippelnd: Daniel Mulligan) sind seine ständigen Begleiter. Diesem Tod vermag er mehrmals von der Schippe zu springen. Selbst der Aufenthalt in der Irrenanstalt des Doktor Begriffenfeldt in Kairo (eine umwerfende Pantomime von Dominik Slavkovsky) und die Heimsuchung durch die Irren (ungemein virtuos getanzt von Emma Antrobus, Mélissa Ligurgo, Luca Afflitto und Mark Geilings) vermag Peer nicht zu brechen. Die Darstellung dieses Charakters erfordert einen reifen Tänzer der es eben schafft, die Unreife, die Ruhelosigkeit, die Ich-Bezogenheit, die Fantasterei und am Ende die Erkenntnis der echten Liebe darzustellen. Die Compagnie des Balletts Zürich verfügt seit dem Amtsantritt des Ballettdirektors Christian Spuck vor zehn Jahren über den perfekten Mann für diese anspruchsvolle Rolle: William Moore. Er ist mit jeder Faser seines kraftvollen Körpers dieser Peer Gynt: naiv, jungenhaft, egoistisch, frech, unverfroren - und weil wir uns in ihm erkennen, sogar leicht sympathisch.

Clugs Choreografie ist erzählerisch dichtes, poetisches und tiefgründiges Tanztheater - bleibt aber nicht im Pantomimischen stecken. Er fordert von den Tänzern  ein reichhaltiges Bewegungsvokabular, findet zu sehr schönen, einfallsreichen Gruppentänzen (Ingrids Hochzeit mit den Holztrümeln und dem Auftritt von Lucas Valente als kraftstrozendem Schmied), die orientalischen Tänze mit den Teppichen und den Sarkophagen, die witzig-wuchtigen Szenen bei den Trollen. Hier beeindruckte Jesse Fraser als imposanter Trollkönig. Lustig gestaltet war auch Peers Begegnung mit den drei Sennerinnen (Marta Andreitsiv, Chandler Hammond, Daniela Thorne), die er an ihren langen Haarzöpfen wie ein Pferdegespann führte. Etwas Rätselhaft-Phantastisches hatte Solveigs Schwester, Klein Helga (gekonnt hopsend: Aurore Lissitzky), die im Häschen-Kostüm auftreten musste. Die stimmigen Kostüme entwarf Leo Kulaš, für die manchmal etwas dunkle, aber eine mysteriöse Stimmung evozierende Lichtgestaltung zeichnete Tomaž Premzl verantwortlich.

 

 

Clug hat für seine Choreographie ausschliesslich Musik von Ibsens Landsmann und Zeitgenossen Edvard Grieg ausgewählt. Neben den Ausschnitten aus Griegs Bühnenmusik zu Peer Gynt erklangen Sätze aus dem 1. Streichquartett, dem Klavierkonzert, den Lyrischen Stücken, ein norwegischer Tanz und ein Teil aus der Suite Aus Holbergs Zeit. Der Pianist Adrian Oetiker brillierte im Adagio des Klavierkonzerts und den Lyrischen Stücken mit Innigkeit und im dritten Satz des Klavierkonzerts mit Virtuosität. Die Philharmonia Zürich unter der Leitung von Victorien Vanoosten zeichnete differenzierte musikalische Stimmungsbilder zu den verschiedenen Schauplätzen. Auf das (neben der Morgenstimmung) populärste Stück aus der Peer Gynt Suite, nämlich Solveigs Lied, wartete man allerdings vergeblich. Denn Clug benutzt für die letzte Szene nur die vierminütige Melodie op. 47 aus den Lyrischen Stücken. Solveig trägt (gleich Jesus das Kreuz) eine Tür auf dem Rücken. Durch diese Tür geht Peer. Endlich ist er mit Solveig vereint - und dieser Pas de deux der beiden gealterten Menschen, die endlich zueinander gefunden haben, ist von ergreifender Kraft, der Staub fällt wortwörtlich von den beiden ab, noch einmal blüht jugendlicher Elan auf. Wenn die beiden dann im hellen Licht, das sie aus dem Jenseits willkommen heisst, gemeinsam unter dieser Tür stehen, muss man doch noch eine kleine Träne verdrücken.

P.S.: Es schadet nicht, wenn man sich als Vorbereitung auf den Ballettabend ein wenig mit Ibsens Dramen-Vorlage beschäftigt ... .

(c) Batardon

Kaspae Sannemann, 23.5.22

 

 

MONTEVERDI

(Ballett Zürich)

10.2.2022

 

Das von mir wahrgenommene gute Dutzend Zuschauer, welches in der Pause seine Mäntel abholte und das Opernhaus verliess, hat den spannenderen Teil der Aufführung verpasst. Denn nach der Pause folgten die stärksten choreografischen Einfälle in Christian Spucks als spartenübergreifendem Abend konzipiertem Stück MONTEVERDI. Doch gerade das "Spartenübergreifende" wird (im Gegensatz etwa zu Spucks sehr erfolgreichen und begeisternden Abenden WINTERRREISE oder MESSA DA REQUIEM) zum Problem. Während man den Text des Requiems ungefähr im Kopf hat und die Liedtexte zu Schuberts Zyklus ebenfalls (oder sie zumindest gut versteht), ist man bei den Auszügen aus dem siebten und achten Madrigalbuch von Claudio Monteverdi auf die Übertitel angewiesen und muss somit quasi multitaskingfähig sein, ein Auge auf den Tanz (und gleichzeitig auf die Sänger*innen) und das andere auf die Übertitel richten.

 

 

Ich schaffte das nicht. Vielleicht sind ja die Texte auch gar nicht so wichtig (aber sie werden nun mal eingeblendet), denn Spuck geht es gar nicht darum, die Textinhalte zu vertanzen oder gar zu verdoppeln, sondern es geht ihm um ein Aufnehmen und Weiterspinnen von durch die Musik ausgelösten Stimmungen. Dabei verzichtet er in seiner Choreografie auf eine stringente, durchgehende Handlung. Und doch scheint das alles eingebettet zu sein in eine tragisch endende schwule Beziehung. Zwei Männer (wunderbar getanzt von Luca Afflitto und Achille de Groeve) begegnen sich voller Zärtlichkeit, können sich in die Arme des Partners fallen lassen, eine tröstliche, ja berührende Choreografie zur dezent aus dem Hintergrund erklingenden Schlagermusik (ab Spulentonbandgerät). Murolos REGINELLA wird am Ende nochmals anklingen (die schwule Beziehung wird kein gutes Ende nehmen ...). Monteverdis Musik - und die einiger seiner Zeitgenossen, die Spuck verwendet hat (Marini, Ferrari, Rognoni, Trabaci) - handelt ja auch vorwiegend von unerfüllter Liebe, Verlassenheit, Abschied, Verlust ja gar von versehentlicher Tötung der Geliebten. Dazwischen wird immer mal wieder das Spulentonbandgerät eingeschaltet, welches Klangfetzen von Schlagern wie Azzurro, Caprifischer, Come prima oder Luna rossa gedämpft erklingen lässt. Das alles passt eigentlich recht gut zusammen, ist in sich sehr stringent gewählt. Die Tänzerdes Balletts Zürich setzen die Choreographie mit wunderbar fliessender Anmut und fantastischer Präzision um. Zur durch den Countertenor Ayeh Nussbaum Cohen mit leidenschaftlicher Intensität vorgetragenen Ferrari-Arie Queste pungenti spine treten fünf Paare und das Ensemble auf, man bewunderte die wunderschön ausgeführten, langsamen Armbewegungen, die sanften Landungen nach den Hebungen. (Raffaelle Queiroz, Loïck Pireaux; Katja Wünsche, Cohen Aitchison-Dugas,; Giulia Tonelli, Achille de Groeve; Mélissa Ligurgo, Alexander Jones; Elena Vostrotina, Jesse Fraser) Der Wand entlang schleicht während des gesamten Abends ein "Ritter von trauriger Gestalt", ein Zwitterwesen zwischen Don Quijote und Monteverdi selbst.

 

 

Dieses "der Wand entlang schleichen" hat man auch schon in der WINTERREISE gesehen. Überhaupt scheint vieles an diesem Abend vom Bewegungsvokabular und den choreografischen Abläufen her etwas repetitiv und dadurch mit dem ununterbrochen dämmrigen, nur in den Wärmegraden leicht changierenden Licht  zusammen zu Ermüdung führend (Lichtdesign: Martin Gebhardt). Die von Schwarzschimmel befallenen Wände (Bühne: Rufus Didwiszus) tragen zu dieser demprimierenden Bunker-Endzeitstimmung bei. Auch die Kostüme von Emma Ryott sind in gedeckten Farben gehalten, oftmals in weitgeschnittenen Hosen, Schlabberpullis und Spagetti-Träger-Tops, dann auch mal (für Rognonis Vestiva i colli) in knöchellangem Tüllrock mit Goldtop - auch für die Männer. Oftmals scheinen in den Kostümen auch Anklänge an die Mode der Enstehungszeit der Musik auf: Renaissance-Halskrausen und enges Wams. Nach der Pause gewinnt der Abend etwas an Spannung. Vor allem der grosse Pas de Deux mit Giulia Tonelli und Lucas Valente zu Monteverdis trauriger Legende Il combattimento die Tancredi e Clorinda wird dank der spannungsgeladenen Kraft der beiden zu einem Höhepunkt des Abends. Giulia Tonelli und Lucas Valente lassen einen regelrechten Geschlechterkampf zwischen Liebenden entstehen - Annäherung und Zurückweisung erzeugen ein gewaltiges Spannungsfeld, das quasi in einem Martyrium kulminiert. Der kraftstrotzenden Virilität Valentes steht Giulia Tonellis energiegeladener Tanz in keinster Weise nach, bis zur totalen Erschlaffung des Körpers. Endlich kam etwas Dramatik in den sonst eher gepflegt dahingetanzten Abend.

 

 

Danach, zu Celentanos Azzurro (und zur Entspannung) ein anmutiges Bild: Damen in senfgelben Roben besteigen Stühle, arrangieren sich zu einem sehr ästethischen Tanz mit den Stühlen. Grandios auch der Pas de Deux von Katja Wünsche und William Moore zu Monteverdis Lamento d'Arianna, das von der Mezzosopranistin Siena Licht Miller ergreifend gestaltet wurde. Eindrücklich auch die Hinführung zu einem Tableau vivant der gesamten Compagnie (einige blutüberströmt) zusammen mit allen Sängern: Den wunderschön intonierenden Sopranitinnen Louise Kemény und Lauren Fagan, der herausragenden Mezzosopranistin Siena Licht Miller, dem markanten Countertenor Aryeh Nussbaum Cohen, den stilsicher und sauber singenden Tenören Edgaras Montvidas und Anthony Gregor und dem mit warm strömenden Bass einnehmenden Brent Michael Smith. Sie alle verhalfen dem Abend zu musikalischer Grösse, unterstützt vom Orchestra La Scintilla unter der kompetenten Leitung von Riccardo Minasi.

Fazit: Trotz manch anmutiger Formationen und einger Szenen von choreografischer Wucht war es ein Abend ohne Kohärenz, mit einem Konzept, das mehr versprach als es zu halten imstande war. Statt eines Hohelieds auf die Melancholie überwog auf weiten Strecken eine deprimierende, einschläfernde Stimmung, welche von Licht, Bühne und Kostümen noch unterstützt wurde.

 

Kaspar Sannemann, 13.2.22

 

© Gergory Batardon

 

 

BOLÉRO / LE SACRE DU PRINTEMPS

 

Weitere Aufführungen in Zürich: 29.10. | 7.11. (Nachmittag und Abend) | 11.11. | 14.11. | 28.11. | 30.11. | 2.12. | 4.12.2021

 

Ein Mann in grauem Mantel und Bowler Hut (eine Referenz an Ravels Zeitgenossen René Magritte?) steigt auf die Bühne, schiebt den schwarzen Vorhang nach oben, Vogelgezwitscher ist zu vernehmen. Er geht auf einen Holzzaun zu, wie von unsichtbarer Hand bewegt öffnen und schliessen sich Türen im Zaun. Geheimnisvoll Erotisches scheint sich hinter dem Zaun abzuspielen, Kleider fliegen in die Luft - Maurice Ravels Boléro setzt ein, ein mal poetisches, mal witziges, mal brutales Spiel beginnt. Im Zentrum steht immer diese hölzerne Wand, welche sich als ungeheur flexibel erweist. Mal ein Grenze bildend, dann teilweise oder vollständig niederklappend, mal horizontal oder vertikal faltbar und neue, spannende Räume bildend. Sechs Tänzer und drei Tänzerinnen durchleben Situationen, welche von Schrecken bis zur exaltierten Partystimmung reichen, finden sich in Paaren, Konflikten, auswegslosen Situationen, sind mal ausgestossen, dann wieder ins taumelnd-betrunkeneTreiben integriert.

 

 

Die neun Tänzer rennen im wortwörtlichen Sinne gegen die Wand, stehen am Abgrund oder auf der liegenden Wand, die als Podest für beinahe exhibitionistische Selbstdarstellungen dient. Das Bewegungsvokabular reicht von lasziv bis bizarr, oft wird mit angewinkelten Gliedern getanzt, das klassisch gestreckte Bein oder der Tanz auf der Spitze kommen nicht vor. Das weckt Assoziationen, ohne durch eine konkrete Handlung zu bevormunden. Johan Inger ist hier in der vor 20 Jahren für das Nederlands Dans Theater entstandenen Choreografie ein zeitloses Meisterwerk gelungen, welches einen eine halbe Stunde lang in seinen Bann schlägt. Mitten im Stück stoppt die Musik aus dem Graben, man hört sie nur noch aus der Ferne. Eine Frau scheint im Winkel der Wand gefangen, ein Mann kommt hinzu, ein rätselhaftes Schattenspiel beginnt, als die beiden zur Synchroniziät finden, setzt die Musik aus dem Graben wieder mit vollem Orchesterklang ein, Ravels Ostinato-Boléro steigert sich, parallel dazu verfallen Tänzer in stampfende Rasanz, ziehen sich die grauen Mäntel und die Bowlerhüte wieder an, die Ausgelassenheit geht mit der finalen Kulmination des Boléros zu Ende - der einzige ohne Mantel und Hut bleibt auf der Bühne zurück, das Publikum setzt mit begeistertem Applaus ein, doch Johan Ingers Choreografie ist nicht zu Ende, er unterläuft gekonnt die Erwartungshaltung des Publikums, das vielleicht die Jahrhundertchoreografie des BOLÉRO von Maurice Béjart noch vor Augen hat.

 

 

Inger lässt in einem traurigen Abgesang, untermalt von Arvo Pärts sublimem, ätherischem Klavierstück Für Aline einen berückenden Pas de Deux folgen, an dessem Ende die Frau alleine zurückbleibt und der Mann sich von der Wand aus ins Dunkel stürzt. (Suizid?). Tänzerisch wird das grandios vom Ballett Zürich umgesetzt. Die drei Frauen bekommen ganz unterschiedliche Charaktere - und interpretieren ihre Rollen mit fantastischer Bühnepräsenz. Emma Antrobus in Weiss, Meiri Maeda in Rot und Giulia Tonelli in Kupfer verleihen ihren Figuren eine überwältigende Kraft und Persönlichkeit. Die sechs Männer stehen ihnen in nichts nach: Luca Afflitto, Cohen Aitchison-Dugas, Esteban Berlanga, Jan Casier, Mark Geilings und William Moore vereinen Kraft, Agilität, Witz und Verzweiflung auf höchstem Niveau. Die gross besetzte Phiharmonia Zürich unter der Leitung von Jonathan Stockhammer und die Pianistin Kateryna Tereschchenko erzeugen mit Ravels Boléro eine mitreissende Wirkung aus dem Graben, respektive mit Arvo Pärts Klavierkomposition eine betörend-elegische Stimmung.

 

 

Die orchestrale, explosive Kraft setzt sich nach der Pause mit Strawinskys LE SACRE DU PRINTEMPS fort. Meinen Worten zur Premiere von 2016 brauche ich eigentlich kaum noch was hinzuzufügen, ich habe den Text mit der Wirkung ergänzt, welche meine zweite Begegnung mit Clugs Choreografie nach fünf Jahren (und diesmal vom zweiten Rang aus betrachtet) auf mich hinterlassen hat: Edward Clugs Interpretation von LE SACRE DU PRINTEMPS, entstanden für das Slowenische Nationalballett Maribor 2012, für Zürich nun neu einstudiert – ist ein gewaltiger Wurf. Die Bühne ist hier rabenschwarz, mit fahlem, von oben fallendem Licht. Nur im unteren Drittel ist ein weisser Streifen der Hoffnung ausgespart, welcher dann aber zu Beginn des zweiten Teils (Das Opfer) ebenfalls vom schwarzen Vorhang überdeckt wird. Clug beschränkt sich auf sechs Tänzerinnen und sechs Tänzer, welche in einer Art Endzeitstimmung im Bühnengeviert gefangen sind, sich nach dem Licht recken, Rochaden in ihren Aufreihungen durchführen, eine Möglichkeit des Ausbruchs suchen. Eine Art Geschlechterkampf scheint sich abzuspielen. Die Menschen wirken nackt in der sandfarbenen Unterwäsche, die Körper weiss bemalt, die Frauen mit Zöpfen und etwas übertriebenem Wangenrouge (eine kleine Hommage an die Uraufführung), erbarmungslos ihrem tristen Dasein ausgeliefert. Immer wieder klappen sie ermattet und erschöpft zu Boden. Nur eine sondert sich von Beginn weg ab: Katja Wünsche als die junge Frau, welche nicht durch die Gruppe in die Opferrolle gezwungen wird, sondern dieses Selbstzerstörerische, Opferwillge von Anfang an selbstbestimmt in sich trägt, das Martyrium quasi sucht. Das geht wahrlich unter die Haut. Wunderbar einfühlsam dann die Szene, in der die Frauen dem Opfer zärtlich die Zöpfe entflechten: Anteilnahme am Schicksal des Opfers und Vorbereitung der Qualen zugleich.

 

Phänomenal natürlich der szenische Coup de théâtre mit dem Wasser, welches am Ende der ersten Teils vom Bühnenhimmel fällt, perfekt und effektvoll ausgeleuchtet wird und von nun an die Szene beherrscht. Bewundernswert, wie die Tänzerinnen (neben Katja Wünsche begeistern Giulia Tonelli, Inna Bilash, Melissa Ligurgo, Sujung Lim und Michelle Willems) und Tänzer (Alexander Jones, Jesse Fraser, William Moore, Daniel Mulligan, Matthew Knight und Lucas Valente) sich auf das „gefährliche“ Element Wasser einlassen, mit dem glitschigen Boden und den Pfützen spielen, sich beregnen lassen. Von einer tristen Poesie geprägt sind die wunderbar laut- und schwerelos über den nassen Boden gleitenden Tänzerinnen, welche wie Schwäne über die klitschnasse Bühne schweben oder sich von den männlichen Partnern in einer Art Todesspiralen wie beim Eiskunstlauf im Kreis drehen lassen. Dabei verbindet sich der Puder der Körper mit dem Wasser auf dem Bühnenboden und es werden in dieser milchigen Suppe schöne Kreiszeichnungen sichtbar. Leider führen diese poetischen Momente zu unangebrachten Lachern im Publikum. Diese zauberhaften Momente bilden einen scharfen Kontrast zu den brachialen und archaischen Riten, in welchen diese wie letzte Überlebende nach einer Naturkatastrophe ums Leben kämpfenden Menschen verzweifelt Zuflucht suchen. Auch bei Clug ist (wie vor der Pause bei Inger) alles genau und feinfühlig aus der Musik heraus entwickelt, den packenden Sog der Partitur erbarmungslos aufnehmend und weiterführend. Gerade deshalb ist es hoch spannend, wie die beiden grossbesetzten Musikstücke aus dem ersten Viertel des 20 Jahrhunderts, die beide in Paris uraufgeführt worden waren, hier choreografisch interpretiert werden.

 

Kaspar Sannemann, 30.10.21

 

Bilder (c) Gregory Batardon

 

 

 

 

 

ANGELS' ATLAS

08.10.2021

 

Engebettet zwischen die beiden - auch optisch - effektvollen Choreografien von Crystal Pite ist in diesem dreiteiligen Ballettabend des Balletts Zürich die introvierte, sperrige Schöpfung ALMOST BLUE des sensiblen Künstlers Marco Goecke zu erleben. Mit dieser Choreografie verarbeitete Goecke seinen unfreiwilligen Abschied aus der Stuttgarter Compagnie, wo er lange Zeit als Hauschoreograf tätig gewesen war und nach 13 Jahren nicht mehr weiter engagiert wurde. (Inzwischen hat er sich mit dem Stuttgarter Ballett versöhnt und wirkt seit 2019 als Ballettchef in Hannover.) ALMOST BLUE ist also eine ziemlich düster ausgefallene Introspektive auf Gefühlslagen von Trauer, Wut, ja gar Verletzungen, handelt (wie die Liedtexte des - späteren - Transgender-Sängers Antony Hegarty erahnen lassen) von einsamen Nächten, Albträumen, Verlorenheit. Goecke hat diese Gefühle und Ängste mit verstörender, schwierig zu entschlüsselnder Körpersprache der Tänzeinnen und Tänzer umgesetzt. Eckig, ja fahrig, zitternde Arme und Hände, wenige Berührungen. Es sind einsame, verlorene Figuren auf einer leeren, schwarzen Bühne, auf der sie mit Rauchkerzen noch zusätzliches Grauen verbreiten. Manchmal geben die Tänzer gar bellende Laute von sich, scheinen ihren Schmerz nicht nur mit Tanz verarbeiten zu können, da muss noch mehr raus aus den Anspannungen des Körpers. Nur selten finden sie zu fliessenden, poetischen Bewegungen. Die dreiTänzerinnen (Michelle Willems, Greta Calzuola und Lauren Draper) und die sechs Tänzer (Chandler Hammond, Cohen Aitchison-Dugas, Iacopo Aregui, Esteban Berlanga, Jesse Fraser und Danniel Mulligan) setzen die diffizile, kantige und vertrackte Körpersprache mit grandioser Selbstverständlichkeit um. Nach etwa der Hälfte der gut 20minütigen Choreografie wechselt die Musik von Antony and the Johnsons zu Songs der Blues-Legende Etta James. Am Ende fällt Staub vom Bühnenhimmel, die Tänzer werden von einer Staubwolke (dem ganzen Dreck der Erde) quasi verschlungen, kämpfen sich aber wieder durch und hinterlassen Spuren im Sand. Doch die blutende Wunde auf der Brust eines Tänzers bleibt, Verletzungen gehen nicht einfach so weg. Goeckes Schöpfung ist keine einfache Kost, man müsste sie ein zweites Mal auf sich wirken lassen können, um die gesamte Tiefe zu ergründen.

 

 

Da machen es einem die beiden Werke von Crystal Pite - EMERGENCE und ANGELS' ATLAS - bedeutend einfacher, denn nicht zuletzt durch die spektakulären Bühnenbilder von Jay Gower Taylor und die noch spektakuläreren Lichtdesigns (EMERGENCE: Alan Brodie, ANGELS' ATLAS: Jay Gower Taylor und Tom Visser) fesseln die beiden Stücke unmittelbar. EMERGENCE war bereits im Januar 2018 auf der Zürcher Bühne zu bewundern gewesen. Was ich damals schrieb, kann ich nur wiederholen: "Crystal Pite ist eine der ganz wenigen Frauen, welche es an die Spitze der Choreografinnen des zeitgenössischen Tanzes geschafft haben. Ihre 2009 für das National Ballet of Canada entstandene Choreografie EMERGENCE (zur Musik von Owen Belton) sorgte nun auch in Zürich für Begeisterungsstürme. Darin nimmt sie die sozialen Interaktionen eines Insektenstaates (Bienen, Ameisen) unter die Lupe, verwendet sie als Metapher für die Situation innerhalb einer Ballettcompagnie – und damit auch für die Gesellschaft ganz allgemein. Denn sowohl in einer Tanztruppe als auch im alltäglichen Zusammenleben bringt uns nur das Gemeinsame weiter, das Schaffen im Team, wo jeder etwas von seinen Fähigkeiten einbringen kann, das Puzzle des Werdens einer Idee sich aufgrund der individuell eingebrachten Fähigkeiten und Qualitäten der einzelnen Teile sich zu einem vollendeten Ganzen fügt. Das mag nun alles etwas intellektuell klingen, doch Crystal Pites Arbeit, welche von den fast 40 Tänzern des Balletts Zürich mit bestechender Kraft, Synchronizität, Virtuosität und Körperspannung umgesetzt wurde, entfaltet eine ungeheure Intensität. Gebannt folgt man dem choreografischen Einfallsreichtum Crystal Pites, der spannungsgeladenen Umsetzung durch das Ballett Zürich, die man nur in höchsten Tönen loben kann. Da sie alle – eben wie die Insekten - gemeinsam am Erfolg des Ganzen beteiligt sind, kann man gar nicht in Versuchung geraten, einzelne Tänzer*innen herauszuheben, sie sind allesamt eine Wucht! Das reicht vom virtuosen Tanz auf der Spitze der „Weibchen“, wenn sie mit geballter Frauenpower wie eine Wand die muskulösen und dominanten Männer mal zurückdrängen, bis zu den angewinkelten Armen und den unglaublich insektenhaften (und überaus virtuosen) Bewegungen der Masse. Dazu kommt das Bühnenbild (Jay Gower Taylor), welches mit seinen sich nach der Mitte verdichtenden Nadeln ein Nest andeutet, eine Röhre führt dann nach hinten. Durch diese Röhre strömen zu Beginn die Insekten heraus – durch sie kommt am Ende aber auch ein beängstigendes oranges Licht, das alle blendet, bevor dann die Bühne im Dunkel versinkt." Auch gestern Abend löste diese hochspannende Choreografie Begeisterungsstürme aus, man staunte über die atemberaubende Synchronizität, über die in den ganzen Körper übertragenen, perfekt zu den stampfenden Rhythmen der elektronischen Musik ablaufenden Zuckungen und Verrenkungen. Und man sinnierte erneut über die Bedeutung des einsamen Insekts (Mannes) in der Röhre nach, der als einziger das grosse Insektensterben überlebt zu haben schien.

 

 

In ihrer neuen Choreografie ANGELS' ATLAS, die dem Abend den Tittel gab, spürt Crystal Pite erneut grossen Fragen nach. Was passiert zwischen Kosmos und Erde, welche Kräfte wirken, wohin gehen wir. Das Stück mäandert zwischen Mystik und Postapokalypse, faszinierend, ja manchmal beinahe rauschhaft wird man in diesen Kosmos hineingezogen. Auch hier, wie in EMERGENCE, wird nicht an Tänzern gespart, weit über dreissig tanzen vor diesem fantastischen Hintergrund. Jay Gower Taylor und Tom Visser haben eine sensationell wirkende Technik entwickelt: Gebündelte Lichtstrahlen werden auf die Kanten sich bewegender, mit Spiegelfolie überzogener Objekte gelenkt und auf die Rückwand projiziert. So entstehen unglaublich schöne Gebilde, die sich immer wieder verändern. Das hat was von Sternenstaub, kann sich aber für ein Pas de deux auch mal wie zu einem gotischen Tor formen, dann wieder wie Messer aus dem Boden schiessen oder wie Supernovas am Firnament aufleuchten. Aufpassen muss man bloss, dass man vor lauter optischen Spektakels auf dem Bühnenhintergrund nicht vergisst, den wunderschön und hochspannend choreografierten, ausdrucksstarken Bewegungen des mit immenser Kraft und Genauigkeit tanzenden Balletts Zürich und des Junior Balletts die gebührende Beachtung zu schenken, sich vom irdischen Vergehen, das Pite so bewegend inszeniert, berühren zu lassen. Die sakralen Gesänge aus Tschaikowskis Feder, welche mit elektronischen Klängen von Owen Belton und mystischer Musik von Morten Lauridsen gemischt werden, stellen einen wesentlichen Bestandteil für die soghafte Endzeitstimmung dar, in welche uns dieses Gesamtkunstwerk zieht.

Kaum endenwollende Beifallstürme für die Ausführenden.

 

Bilder © Carlos Quezada

Kaspar Sannemann 14.10.21

 

 

DORNRÖSCHEN

10.10.2020

 

Gratwanderung I, Ballett in Zeiten der Pandemie

 

Es gehört eine grosse Portion Mut (manche würden sagen Verwegenheit) dazu, in Zeiten gerade in der Schweiz rasant steigender Infektionsraten ein grosses Handlungsballett mit allen Zutaten wie Pas de Deux, Pas de Quatre, Gruppentänzen, Berührungen und gar Küssen live vor 900 Zuschauern auf die Bühne zu bringen. Da die Tänzerinnen und Tänzer des Balletts Zürich eine eigene, geschlossene Infektionsgruppe bilden, ist dies gemäss den geltenden Richtlinien der Gesundheitsbehörden machbar. Es fragt sich allerdings (leider) wie lange noch? Was passiert, wenn es trotz aller Vorsicht der Beteiligten doch zu einem Infektionsfall im Corps oder beim Junior Ballett kommen sollte? Man wagt gar nicht, daran zu denken. Nichtsdestotrotz – man ist mehr als dankbar, dass das Opernhaus Zürich und das Ballett Zürich das Wagnis eingehen, dass Live-Kultur stattfinden kann, dass man der mehr und mehr umsichgreifenden Panikmache die Stirn bietet. Das begeisterte Publikum verlieh mit seinem enthusiastischen Applaus am Ende des Premierenabends dieser Dankbarkeit vehement Ausdruck.

 

Gratwanderung II, die (leichte) Umschreibung der Handlung

 

Der Zürcher Ballettdirektor Christian Spuck hat für seine Choreografie die Handlung etwas verändert, aus der Prinzessin Aurora ein Feenkind gemacht, das nach dem Tiefschlaf nicht vom Prinzen Desiré, sondern von ihrer Ziehmutter, der Fee Carabosse, wachgeküsst wird, von eben dieser Ziehmutter, der Aurora vom Königspaar seinerzeit als Baby geraubt worden war, nun aber von Carabosse scheinbar doch magische Fähigkeiten geerbt hat. Aurora zeigt nun nach ihrer Erweckung dezent emanzipatorische Züge, versetzt erst die ganze Hofgesellschaft, dann auch die anderen Feen und selbst die Fliederfee und am Ende gar den Prinzen erneut in Erstarrung, und macht sich lächelnd davon. Dies ist eine überraschende Wende, das finale Kostümfest mit den Märchenfiguren bleibt aus, ebenso das traute Glück von Prinz und Prinzessin. Christian Spuck legt den Schwerpunkt ganz auf den Kindesraub des egoistischen Königspaars, den Schmerz der „Ziehmutter“ Carabosse, die auf einmal nicht mehr böse erscheint und das Kind nicht deshalb verflucht, weil sie nicht zur Taufe geladen war, sondern aus Schmerz darüber, dass man ihr ihr Liebstes geraubt hatte. Carabosse begleitet von nun an die Handlung, mal dämonisch, mal mitfühlend, zerrissen zwischen „Mutterliebe“ und Rachsucht. William Moore tanzt und interpretiert diese „Fee“ mit einer bestechenden Bühnenpräsenz, macht die Verzweiflung dieses geflügelten Wesens erlebbar, kraftvoll und zerbrechlich zugleich. Grossartig! Christian Spuck hat die Musiknummern für seine Fassung etwas umgestellt, was aber bei so einem Nummernballett durchaus legitim ist. Seine Choreografie zeichnet sich durch viele wunderbar einfühlsame und genau beobachtete Details aus, auch der Humor kommt nicht zu kurz. Das Dämonische wird dezent, aber an den passenden Stellen wirkungsvoll eingesetzt. Da sich die Eingriffe in die Grundstruktur der Handlung (und der musikalischen Abfolge) in Grenzen halten, ist die Gratwanderung gelungen. Natürlich muss man auf die beliebtesten Nummern nicht verzichten, das Rosen-Adagio ist da, allerdings bei weitem nicht so spektakulär umgesetzt wie in der Originalchoreografie von Petipa. Auf Tellertutus wird verzichtet, stattdessen trägt Aurora einen wadenlangen Tutu. Auch der grosse Pas de deux von Aurora und Desiré wirkt etwas kalt und distanziert. Estaban Berlanga tanzt einen Prinzen Desiré mit weich fliessenden Bewegungen voller Grazie und Eleganz, etwas entrückt insgesamt, einer von diesen in Balletten aus dem 19. Jahrhundert bekannten Träumerprinzen, wie Siegfried in SCHWANENSEE oder Albrecht in GISELLE. Michelle Willems zeigt eine Aurora von kindlicher Verspieltheit, macht die Wandlung von der trotzig Pubertierenden zur selbstbewussten jungen Frau mit tänzerischer Finesse glaubhaft.

 

Gratwanderung III, die Feen

 

Den grössten „Coup“ setzt Spuck wohl mit seiner Sicht auf die Feen. Die Feen sollen also die Ziehmütter der Babys im Feenreich sein, bevor diese Kinder zu den Menschen gebracht werden. Das Eindringen der Menschen in dieses Feenreich wird gar nicht gern gesehen. Allerdings sind diese Feen allesamt mit Tinkerbell-Flügeln versehene Männer, was dem Ganzen einen etwas affektiert-tuntigen Anstrich verleiht, gemildert allerdings durch virtuoses, insektenhaftes Getrippel. Manchmal erklimmen die Feen die Wände und kleben dann wie geflügelte Insekten daran. All dies ergibt einige lustige Situationskomik, etwa wenn als Schlaflieder für die Babys Songs wie Tom Jones' Sex Bomb geträllert werden, und Christian Spuck schafft die diffizile Gratwanderung zwischen affektierten Drama-Queens und schwuler Elternliebe gerade noch ohne abzustürzen. Diese Feen scheinen berühmten Persönlichkeiten zu ähneln, aber vielleicht verrenne ich mich da. Jedenfalls erinnerte mich z.B. die Goldfee (George Susman) an Don Quijote. Umwerfend gut wirft sich Jan Casier als Fliederfee mit rosa Handtäschchen in die Rolle. Da stimmt jede (tuntige) Handbewegung, jeder Augenaufschlag, das Richten der Perücke, das Wegwischen eines Flusels auf dem Revers – eines Ballett-Oscars würdig ist diese Darstellung! Aber erfrischend ist, dass all diese Feen in ihrer Affektiertheit von Christian Spuck doch sehr individuell gezeichnet werden:In den Variationen brillieren Iacopo Arregui als Silberfee, Dominik Slavkovský als Blaue Fee, Wei Chen als Grüne Fee und Mark Geilings als Rote Fee. Dazu kommen, wie erwähnt, die beiden Hauptfeen: Jan Casier als Fliederfee und William Moore als Carabosse (dämonisch schwarze Fee).

 

Die Nebenfiguren

 

In der Charakterisierung und Herausarbeitung der Nebenfiguren zeigt Christian Spuck entscheidende Grösse und Einfühlungsvermögen: An erster Stelle sind die beiden ersten Solistinnen des Balletts Zürich zu nennen: Giulia Tonelli und Elena Vostrotina. Im Prolog glänzt Giulia Tonelli als 1. Hausdame mit Staubwedel und weissem Häubchen in einer virtuos und rasant choreografierten „Dienernummer“ zusammen Daniel Mulligan, dem Corps und dem Junior Ballett. An dieser Stelle auch ein Kompliment an die Maske! Das ist fantastisch, was mit Make-up und Perücken für diese Produktion geleistet wurde. Im zweiten Akt tanzt die wie immer äusserst wandelbare Giulia Tonelli mit wunderbar präziser Fussarbeit und elegantem Charme als Verlobte des Prinzen um dessen Gunst und Aufmerksamkeit – vergeblich, denn der ist gedanklich bereits auf Visionen Auroras fixiert. Elena Vostrotina ist eine herrlich ambitionierte Gouvernante Auroras und ganz scharf auf den etwas ungelenken Zeremonienmeister, der gekonnt von Matthew Knight gegeben wird. Das kindesräuberische Königspaar wird von Inna Bilash und Lucas Valente mit geschmeidiger Eleganz getanzt. Lucas Valente berührt auch in einem schönen Pas de Deux mit seiner pubertierenden Tochter Aurora, eine wunderbare Herausarbeitung einer Vater-Tochter Beziehung.

 

Bühne und Kostüme

 

Wie bereits bei Spucks Choreografien zu NUSSKNACKER undDAS MÄDCHEN MIT DEN SCHWEFELHÖLZERNentwarf Rufus Didwiszus das Bühnenbild, diesmal ein dreh- und verschiebbares Objekt aus gigantischen Türen und schmucklosen Räumen, das der Geschichte den gebotenen märchenhaften, aber auch alptraumhaften Rahmen gibt. Durch seine Grösse und Dominanz schränkt diese Raumgestaltung aber die tänzerischen Möglichkeiten räumlich wohl etwas ein. So sind raumgreifende Sprünge und gross angelegte Ballszenen nicht möglich. In den Zimmerfluchten verstecken sich auch die gnomhaften Ladies of Time, dickliche Wesen in Tutu und langen Bärten. Eine greift zum Beispiel mit der vergifteten Spindel in die Handlung ein, eine andere dient zeitweise als Ablage für das Handtäschchen der Fliederfee. Nach der Pause ist das Gebäude verwarlost, blattlose Ranken wuchern, Graffiti zieren die Mauern (Wake me up when I'm famous). Eine wahre Augenweide sind die geschmackvollen, luxuriösen Kostüme von Buki Shiff, da wurde wahrlich aus dem Vollen geschöpft!

 

Die Musik

 

Wie bei allen Aufführungen in diesem speziellen Zürcher-Corona Modell spielt die Philharmonia Zürich live aus dem Probesaal am Kreuzplatz und wird mittels Glasfasertechnik in Lichtgeschwindigkeit ins Opernhaus übertragen. Auch diesmal klappt das hervorragend, der Klang ganz wunderbar abgemixt, viel besser z. B. als bei der CSÁRDÁSFÜRSTIN, wo halt erschwerend für die Balance die Stimmen zu berücksichtigen waren. Robertas Šervenikas ging die reichhaltige Partitur Tschaikowskis mit Verve, aber auch mit subtilem Tiefgang an. Besonders hervorzuheben die ergreifenden Soli von Hanna Weinmeister (Violine) und Lev Sivkov (Violoncello).

 

Fazit

 

Über weite Strecken ein unterhaltsamer, humorvoller und virtuoser Abend mit glänzenden Tänzerinnen und Tänzern und mit das Auge beglückenden Kostümen!

 

Weitere Aufführungen in dieser Saison: 14.10. | 17.10. | 18.10. | 27.10. | 29.10. | 31.10. | 7.11. | 8.11. | 18.12. | 20.12. | 26.12.2020 | 11.3. | 24.3. | 28.3.2021

 

Kaspar Sannemann, 11.10.2020

Bilder (c) Gregory Batardon

 

 

FORSYTHE

26.02.2020


Dreiteiliger Ballettabend anlässlich des 70. Geburtstages von William Forsythe und dessen langjährige Verbundenheit mit dem Ballett Zürich | Werke: THE SECOND DETAIL | Uraufführung: 1991, kreiert für das National Ballet of Canada | APPROXIMATE SONATA | Uraufführung: 1996, getanzt wird die 2016 für Paris revidierte Fassung | ONE FLAT THING, REPRODUCED | Uraufführung: 2000 in Frankfurt | Aufführungen in Zürich: 26.1. | 30.1. | 31.1. | 1.2. | 7.2. | 14.2. | 21.2. | 22.2. und Zusatzvorstellung 26.2.2020

 

Das Ballett Zürich befindet sich auf einem unglaublichen Höhenflug und nimmt sein Publikum auf diese spannende Reise mit! Sämtliche Vorstellungen sind jeweils im Nu ausverkauft (sogar die Hörplätze!) und es werden Zusatzvorstellungen angesetzt; so war auch die gestrige Vorstellung eine solche. Dabei ist dem Publikum egal, ob es sich dabei um Stücke mit traditionellem Charakter handelt oder um Werke mit zeitgenössischer oder gar elektronischer Musik, wie z.B. bei diesem Ballettabend zu Ehren des 70. Geburtstages von William Forsythe. Forsythe arbeitet ja seit über drei Jahrzehnten mit dem Komponisten Thom Willems zusammen und so sind auch die drei Choreografien, welche Forsythe für diesen Abend mit dem Ballett Zürich einstudierte, in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Willems entstanden. Im ersten der drei Werke, THE SECOND DETAIL, beginnt die Musik mit einem pochenden Tic-tac, gewinnt zunehmend an Intensität und unerbitterlicher Mechanik. Ebenso die Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer, welche sich mal mit jazzigen Verrenkungen und komischen X-Bein Stellungen in Szene setzen, mal den pulsierenden Rhythmus aufnehmen oder konterkarieren, dann wieder in Pirouetten drehen wie beim Eiskunstlauf. Grandios einmal mehr die Eroberung des Raums, welchen Forsythe mit den sechs Tänzerinnen und sieben Tänzern auslotet (am Ende gesellt sich auch noch Anna Khamzina als „weisse Dame“ dazu, hinreissend kostümiert durch Issey Miyake). Die gesamte Choreografie wirkt in all ihrer Komplexität doch erstaunlich spielerisch und „leicht“ - und die exzellente Truppe mit Francesca Dell'Aria, Aurore Lissitzky, Meiri Maeda, Giulia Tonelli, Elena Vostrotina, Elizabeth Wisenberg, Cohen Aitchison-Dugas, Wei Chen, Jonah Cook, Jesse Fraser, Mark Geilings, Alexander Jones und Gary Solan strahlt eine mitreissende Joie de vivre aus!

Das Wort „Ja“ ist auf die dunkelblaue Rückwand in APPROXIMATE SONATA (2016), dem zweiten Werk des Abends, projiziert. Vielleicht heisst das „Ja, schaut her“? Denn das Stück für vier Paare beginnt mit dem ersten Paar im Ungewissen, Vagen, Suchenden. Das erste Paar, Michelle Willems und Matthew Knight, scheint die Möglichkeiten des Pas de deux zu erkunden, verfällt auch mal in schlabberige Posen. Die Kostüme von Stephen Galloway sind den auch locker gehalten, die Männer in Blau und Magenta, die Damen in schwarzen Trikots. Das zweite Paar mit Rafaelle Queiroz und Jan Casier legte mehr pathetische Züge in seinen Pas de deux. Nun folgt ein kurzer Gruppentanz aller Paare. Danach legt das dritte Paar (Anna Khamzina und Esteban Berlanga) fliessendere und langsamere Bewegungsabläufe vor. Fantastisch waren die Beinarbeit von Anna Khamzina und das Solo von Esteban Berlanga zu musikalischen Mini-Explosionen. Das vierte Paar mit Elena Vostrotina (sie zusätzlich zum schwarzen Trikot in giftgrün-gelber Schlabberhose) fand sich jeweils nur kurz zusammen, die Tänzerin und der Tänzer schienen mehrheitlich für sich alleine nach Ausdrucksmöglichkeiten zu forschen, das “Ta-ta-te“-Ostinato kontrapunktierend. Die gesamte Choreographie wirkt unglaublich spannend und wenn dann der Vorhang fällt (das erste Paar hat eben wieder begonnen), scheint alles weiterzulaufen.

Ein gewaltiges Rumpeln eröffnet das dritte Stück des Abends: ONE FLAT THING, REPRODUCED. Die vierzehn Tänzerinnen und Tänzer ziehen Metalltische auf die Bühne – und diese Tische werden in den folgenden knapp 20 Minuten auf atemberaubende Art und Weise betanzt, übersprungen und geschoben, so quirlig, so virtuos, dass man gar nicht mehr weiss, wo man hingucken muss. Unglaublich die Sogwirkung, unglaublich auch, was da abgeht, man kriegt kaum alles mit. Und doch bewegen sich die sechs Tänzerinnen (Francesca Dell'Aria, Mariana Gasperin, Sujung Lim, Meiri Maeda, Giulia Tonelli, Michelle Willems) und acht Tänzer (Luca Afflitto, Cohen Aitchison-Dugas, Esteban Berlanga, Wei Chen, Jesse Fraser, Mark Geilings, Dominik Slavkovský, Lucas Valente) mit traumwandlerischer Sicherheit um, auf und unter diesen wohl gefährlich scharfkantigen Objekten. Es ist ein Erkunden (als gedanklicher Hintergrund dienten Forsythe Scotts und Shackeltons Tagebücher zur Südpolexpedition und Schriften von Francis Spufford) der Möglichkeiten des Tanzes – eine lärmige, ekstatische Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten, die ein enormes Vertrauen in alle Beteiligten voraussetzt. Die Verständigung erfolgt mittels visueller, energetischer Zeichen, manchmal ist gar ein akustischer Schrei notwendig. Die Präzision, welche die Tänzer*innen des Balletts Zürich in diesem Tempo und mit den unfassbaren Verästelungen in alle Glieder und Muskeln an den Tag legen, ist hinreissend – das Publikum ist dann auch - wenn die Tische am Ende erneut donnernd nach hinten gezogen werden - zu Recht aus dem Häuschen. Jubel für die famose Truppe und eine verdiente standing ovation.

 

Bilder (c) Gregory Batardan

Kaspar Sannemann, 27.2.2020

 

NIJINSKI

09.03.2019

Schweizer Erstaufführung und Zürcher Neufassung

Vaslav Nijinski war und ist der Tanzgott schlechthin, der Wegbereiter für den männlichen Ausdruckstanz, der Star, der sensible Künstler – und Jan Casier, der im Opernhaus Zürich in Marco Goeckes Ballett den Nijinski tanzt, ist der göttliche Mittelpunkt eines exzeptionellen, tief bewegenden Ballettabends. Casier verkörpert den hochsensiblen Tänzer mit jeder Faser seines Körpers. Dank Goeckes einmaliger, unverwechselbarer Tanzsprache, die vor allem durch rasante Arm- und Handbewegungen lebt, auf Sprünge verzichtet, dafür die Musik durch alle Sehnen und Gelenke geradezu fliessen lässt, entsteht ein fiebrig faszinierendes Porträt nicht nur des Ausnahmetänzers Nijinski, sondern ein Künstlerporträt mit Allgemeingültigkeit - ein Brennen FÜR die Kunst und ein Verbrennen der Seele AN der Kunst. Dabei wählt Goecke nicht einfach den Weg der biografischen Nacherzählung, diese handelt er in seiner Choreografie innerhalb einer knappen Minute durch die Person des Textes (wunderbar gesprochen und getanzt von Mark Geilings) mit ins Mikrofon gehauchter Biographie ab (man tut gut daran, sich als Vorbereitung auf den Besuch der Aufführung das Programmheft zuzulegen oder im Internet den biografischen Weg Nijinskis nachzulesen).

Goecke wählt wichtige Stationen aus dem Lebensweg Nijinskis aus, führt sie in eine Art dreiteilige Form. 1. Teil: Das Wesen der Kunst des Tanzes (der Tänzer sucht gesichtslos nach körperlichen Ausdrucksformen, er und Diaghilew werden von der Muse Terpischore geküsst) 2. Teil: Nijinskis künstlerisches und sexuelles Erwachen (die starke Mutterbindung, die Hassliebe zu Diaghilew, der ihm aber auch den Weg zum Ruhm ebnet und ihn künstlerisch zu tänzerischen und choreografischen Höchstleistungen puscht, die Homosexualität, die Begegnung mit seiner Ehefrau Romola). 3. Teil: Der tiefe Fall (Verdunklung des Geistes, Schizophrenie, 30 Jahre Sanatorien und psychische Experimente, das Dahindämmern des Lebens). Dies alles gewinnt im schlichten, schwarzen Bühnenbild und mit den ebenso schlichten Kostümen in Schwarz, Weiss und Rot von Michaela Springer und der gekonnt fahlen Lichtgestaltung von Udo Haberland eine Intensität, eine Spannung und eine Tragik, der man sich nicht entziehen kann. Die 90 Minuten vergehen wie in einem albtraumhaften, fiebrigen Flug des Geistes und der Seele. Das Ballett Zürich setzt die komplexe Körper- und Tanzsprache Goeckes mit einer verblüffenden Präzision und Selbstverständlichkeit um, die einen staunen lässt. Einmalig das Spiel der Hände, das perfekt austarierte motorische Schwingen der Arme, die abgehackten Bewegungen und Winkel der Gelenke – und dies immer mit fantastischer Kongruenz zur Musik. Ja, diese Musik ist wahrhaftig treffsicher ausgewählt und wird von der Philharmonia Zürich (gottseidank wird live musiziert) unter der Leitung von Pavel Baleff herausragend gespielt. Beide Klavierkonzerte Chopins, unterbrochen von einem russischen Wiegenlied (das durch die ständige Repetition wie minimal music klingt) und Debussys Prélude à l'après-midi d'un faune. Am Flügel begeistert Adrian Oetiker mit einer herrlich zupackenden, virtuosen Interpretation des Soloparts in den Chopin-Konzerten, wunderbar filigran und gefühlvoll in den langsamen Sätzen.

Sinnvollerweise bricht die Musik am Ende bei Nijinskis Dahindämmern nach dem zweiten, nocturnehaften Satz des zweiten Klavierkonzerts ab, während das Allegro vivace Finale des ersten Konzerts wunderbar zum künstlerischen Aufbruch und zur Blüte Nijinskis innerhalb der Ballets russes passt. Man spürt förmlich, wie es hier den Künstler zerreisst, wie die Inspiration den Köper schreien lässt, weil sie raus muss.

Profil erhalten in Goeckes Choreografie neben der Zentralgestalt Nijinskis vor allem die anderen Männer: Da ist sein Mentor und Liebhaber Diaghilew, herausragend interpretiert von William Moore, der das diktatorische Gehabe des Meisters, die Besessenheit mit der Kunst, das Streben nach Perfektion genauso packend gestaltet wie sein sexuelles Begehren nach dem Körper des Tanzgottes. Mit erotischer Intensität gibt Yannick Bittencourt Nijinskis Tänzerkollegen Isajef, der in einer Traumsequenz die Muse für Nijinskis skandalumwitterte Choreografie von Debussys Après-midi d'un faune darstellt. Innerhalb des Traums kommt es dann zu diesem wunderbar choreografierten, homoerotischen Pas de deux. Unter die Haut geht auch die Szene im Irrenhaus mit dem experimentierenden Arzt, der von Dominik Slavkovsky beängstigend dämonisch dargestellt wird. Von den Frauen um Nijinski legt Goecke viel Gewicht auf die starke, alleinerziehende Mutter. Irmina Kapaczynska tanzt sie mit Autorität und Einfühlungsvermögen. Etwas an den Rand gedrängt erscheint mir die Beziehung zu Nijinskis Gemahlin Romola, getanzt von Mélanie Borel (die dann eigentlich in Nijinskis letzten dreissig Lebensjahren in geistiger Umnachtung ein grosse und liebevolle Rolle spielte). Eindrücklich interpretiert Katja Wünsche die Muse Terpischore, von rätselhafter Eindringlichkeit ist die Figur „Etwas“, dargestellt von der grossartigen Elena Vostrotina. Mèlissa Ligurgo und Jesse Fraser begeistern als Libellen, Constanza Perotta Altube räkelt sich als Rosenmädchen mysteriös in einem Sessel.

Überhaupt ist das Aufschimmern von Nijinskis grössten Erfolgen grandios gelöst: Neben dem ausführlichen Erinnern an Après-midi d'un faune werden die anderen Meisterwerke nur angetönt: Die Explosion mit der die Rosenblätter vom Bühnenhimmel fallen (Le spectre de la rose) erscheint wie ein lichtes Aufblitzen in Nijinskis geistiger Umnachtung. In einem grandiosen Pas de trois (Jan Casier, Wei Chen und Riccardo Mambelli) wird an Petruschkaerinnert, und das Umhängen des weissen Clownskragens an seinem Startänzer durch Diaghilew ist wie ein Vorbote auf das, was kommen wird: Den letzte Auftritt als Tänzer in St.Moritz, wo der Clown müde geworden ist und abbricht. Mit fantastischer Präzison meistert die Compagnie des Balletts Zürich die wenigen Ensembleauftritte.

Fazit: Marco Goeckes Tanzsprache ist in ihrer unverwechselbaren Einmaligkeit und hochsensiblen Ausgestaltung gerade bei diesem Künstlerdrama hochgradig faszinierend. Der Applaus des Premierenpublikums jedenfalls war lautstark und begeistert.

 

Kaspar Sannemann 10.3.2019

Bilder (c) Carlos Quezada

 

 

Corpo Barocco

Nunzio Impellizzeri Dance Company

am 14.10.2108

Trailer

Vorwort: Die hellenistische Statue Tanzender Satyr inspirierte Nunzio Impellizzeri so stark, dass sie zur Muse für sein neues Stück wurde. Die Figur mit Augen aus weissem Alabaster ohne Arme und mit nur einem Bein tanzt ungeachtet ihrer Unvollkommenheit. Das führt zur Frage, warum das Unvollkommene eine derartige Schönheit erzeugt. In einer Gegenwart, in der der Sinn für Schönheit zunehmend verfälscht wird, stellt der Choreograf den unvollkommenen Körper und seine Gesten in den Mittelpunkt. Die Körper der Tänzer begeben sich auf eine Reise, bei der Defekt, Anomalie und Ausnahme – typische Konzepte barocker Kunst – gemeinsam ein Synonym für Schönheit und Poesie bilden - Nunzio Impellizzeri Dance Company

Ganz aus dem Dunkel heraus, untermalt von den soghaften elektronischen Klängen von Selma Mutal und Tarek Schmidt, entsteht eine Choreografie von elementarer Wucht und archaischer, roher Kraft Corpo Barocco, konzipiert und choreografiert von Nunzio Impellizzeri, ausgeführt von nur fünf Tänzern.

Ausgehend von der Fragestellung, weshalb das Unvollkommene so faszinierend schön sein kann - siehe barocke Bilderwelt - entwickelt der Choreograph Nunzio Impellizzeri den 60 minütigen Abend, der die Zuschauer beinahe noch atemloser zurück lässt als die extrem geforderten Tänzer. Denn von ihnen verlangt Impellizzeri alles ab, gönnt ihnen keine Pause. Unaufhörlich rasen sie über die Bühne, zerreissen ihre Gesichter zu hässlichen Fratzen, stossen Zisch- und Schmatzlaute aus, stöhnen, schnaufen, verrenken sich, kämpfen, streiten, konkurrieren. Aber dann gibt es auch wunderbar poetische Momente, Augenblicke der Solidarität der Hässlichen, Anflüge einer männlichen Zärtlichkeit, die nicht kitschig wirkt.

Selbstverständlich sind die fünf Tänzer nicht hässlich, ganz im Gegenteil. Doch sie tun alles, bis zur kompletten Selbstaufgabe und Erschöpfung, um diesen Eindruck zu vermitteln. Sie wirken oft wie Gollum aus dem Herr der Ringe, selbstbezogen, rächend. So werfen sie zu Beginn Goldklumpen auf die Bühne, der frei verfügbare Raum wird dadurch zunächst für den Tanz eingeschränkt. Da diese Goldkissen immer wieder anders liegen, bewegt, gestossen werden, sind die fünf Tänzer auf Improvisation angewiesen – und auf tiefes gegenseitiges Vertrauen bei Bewegungen, Sprüngen, beim durch die Luft fliegen und beim Aufgefangen werden. Manchmal starren sie bewegungslos ins Publikum – und da man im Tanzhaus Zürich ganz nah dran sitzt, müssen sie, müssen wir als Zuschauer das erst mal aushalten.

Das ist beklemmend – und bannend. In diesem beinahe 40 Minuten dauernden, rasanten ersten Teil sind die Männer mit rätselhaften Kostümen aus dicken Schnüren bekleidet. Auch das hat etwas Archaisches, gleicht fast einem mittelalterlichen Kettenhemd, einer Art buntem Panzer, der irgendwann gesprengt werden muss. Und das tut er, die Tänzer entledigen sich hinter Säulen aus Milchglas ihres Schnurkostüms, bewältigen den zweiten Teil in weissen Shorts. Die Musik wird weicher, Vokalisen und Orgelklänge beherrschen nun die Klangwelt. Die Tänzer scheinen sich die Organe herauszureissen, zu tauschen, Blutsbrüderschaft der Hässlichen? Selbstverstümmelung? Die Schmatzgeräusche nehmen wieder zu, es wird ekstatisch getanzt, wie Derwische, beinahe bis zum totalen Zusammenbruch.

Am Ende ziehen sie sich alle unter eine Lampe zurück  -das bezwingende Lichtdesign stammt von Marco Policastro - erneut wird eine Solidarität spürbar, eine Versöhnlichkeit. Die Atmung wird leiser, verklingt ins erneute Dunkel.

Das ist alles sehr bewegend und - ja, verstörend - umgesetzt. Doch man erliegt während einer Stunde einem Bann, einer Faszination, die man geradezu körperlich spürt. Grosser Applaus - es war dies leider schon die letzte von fünf Vorstellungen für die fünf exzellenten Tänzer Antonio Moio, Alessio Sanna, Claudio Costantino, Dominik Mall und Neil Höhener. Die haben wahrlich Bewundernswertes vollbracht – Hochleistungssport gepaart mit intensivem Ausdruck.

Neben der hochsubventionierten Compagnie des Ballett Zürich am Opernhaus gibt es in dieser Stadt also noch eine zweite Truppe, die um jeden Franken Unterstützung kämpfen muss. Diese tolle Truppe hat vermehrte Aufmerksamkeit des tanzinteressierten Publikums verdient, sie braucht den grossen Schatten des Ballett Zürich nicht zu fürchten – und für nicht mal einen Zehntel des Eintrittspreises des Opernhauses sitzt man ganz nahe bei den Tänzern, sieht jede Regung, jede Mimik. Ein intensives Erlebnis!

Wer die Aufführungen in Zürich verpasst hat, kann sich kurzentschlossen nach Neapel begeben, wo die Truppe vom 19. - 21. Oktober gastieren wird.

Kaspar Sannemann 20.10.2018

 

 

DER OPERNFREUND  | opera@e.mail.de