Opernhäuser als Inszenierungs-Museen
Ein Streifzug durch die Regie-Klassiker der deutschsprachigen Theater
Das moderne Regietheater bietet immer wieder neue Einblicke und Sichtweisen auf altbekannte Opern: Peter Konwitschnys Hamburger „Lohengrin“ im Klassenzimmer, die „Nabucco“-Inszenierung von Hans Neuenfels mit den Baalspriestern als Hummeln an der Deutschen Oper Berlin oder Calixto Bieitos „Entführung aus dem Serail“ im Sado-Maso-Bordell an der Komischen Oper gehören für mich zu solchen Theatererlebnissen.
Gleichzeitig ist es aber, des Kontrastes wegen, immer wieder spannend eine Reise ins Opernmuseum zu unternehmen. Da erlebt man Inszenierungen, die schon mehr als 30 oder 40 Jahre alt sind und ganz andere Sichtweisen präsentieren, da sie aus einer ganz anderen Epoche stammen. Die großen deutschen Repertoirehäuser bieten da zum Glück eine schöne Auswahl an.
So hat die Deutsche Oper besonders viele Museums-Inszenierungen im Repertoire: Da gibt es immer noch Boleslaw Barlogs unverwüstliche „Tosca“-Inszenierung aus dem Jahr 1969, die „La Gioconda“-Produktion von Filipo Sanjust (1974) in Originaldekorationen der Entstehungszeit, „Figaros Hochzeit“ in einer Produktion von Götz Friedrich (1978) und Lucia di Lammermoor“ von 1980.
An der Hamburgische Staatsoper kann man immer noch Gian-Carlo del Monacos „Cavalleria rusticana /Bajazzo“ von 1988 und die legendäre „Tristan und Isolde“-Produktion von Ruth Berghaus aus dem gleichen Jahr erleben.
Besonders viele alte Inszenierungen haben sich von Humperdincks „Hänsel und Gretel“ gehalten: Hannover bietet eine Produktion von Stefan Tiggeler aus dem Jahr 1964, die Deutsche Oper am Rhein eine Inszenierung von Andreas Meyer-Hanno aus dem Jahr 1969, Mannheim Wolfgang Blums Produktion von 1970 und Hamburg spielt die Peter-Beauvais-Inszenierung von 1972.
Zu den deutschen Häusern mit vielen Inszenierungsklassikern gehört auch das Nationaltheater Mannheim. Dort spielt man eine „Madama Butterfly“-Inszenierung von Wolfgang Blum (1969), „La Boheme“ in einer Inszenierung von Friedrich-Meyer Oertel (1974), eine „Fledermaus“ vom gleichen Regisseur (1978) und eine „Elektra“ (1980) von Ruth Berghaus.
Das absolute Schmuckstück des Hauses ist aber die legendäre „Parsifal“ von Hans Schüler aus dem Jahr 1957, der noch den Geist der Bayreuther Inszenierungen Wieland Wagners atmet. Hier ist man nicht nur von den Lichträumen des Bühnenbildes überrascht, sondern auch wie lebendig die Blumenmädchenszene choreografiert ist. Dazu fängt der Parsifal-Darsteller den von Klingsor geworfenen Speer eigenhändig im Flug.
Nicht ganz so antik fällt das Angebot an der Staatsoper Stuttgart aus: Die älteste Inszenierung des Hauses ist Achim Freyers legendärer „Freischütz“ aus dem Jahr 1980. Außerdem hat man zwei Produktionen aus dem Jahr 1993 im Repertoire: Den von Beat Fäth inszenierte „Barbier von Seviglia“ und die „Traviata“-Inszenierung von Ruth Berghaus.
Auch an der Bayerischen Staatsoper München kann man feststellen, dass sich Puccini-Opern besonders gut im Repertoire halten. Dort gibt es noch Ottos Schenks „Boheme“-Inszenierung von 1969 und eine „Madama Butterfly“-Produktion von Wolf Busse aus dem Jahr 1973.
Zu den Regisseuren, dessen Inszenierungen lange nachwirken, gehört der 1988 verstorbene Jean-Pierre Ponnelle. Auch 32 Jahre nach seinem Tod ist sein Werk lebendig. In Hamburg ist ein „Liebestrank“ von 1977 zu sehen, in München, in Mailand und an der Rheinoper Düsseldorf/Duisburg seine „Cenerentola“ die ursprünglich 1969 in San Francisco herauskam. Doch damit nicht genug: Die Wiener Staatsoper spielt noch das Verismo-Doppel „Cavalleria rusticana/Bajazzo“ (1985) und „Die Italienerin in Algier“ (1987).
Die Wiener Staatsoper hat sowieso viele Ausflüge ins Opernmuseum zu bieten: Von Otto Schenk werden dort noch Inszenierungen von „Der Rosenkavalier“ (1968), „Fidelio“ (1970) , „Die Fledermaus“ (1979) und „Der Liebestrank“ (1980) gespielt. An museumsreifen Inszenierungen hat das Haus am Ring auch Margarethe Wallmanns „Tosca“ (1958) und eine „Salome“ von Boleslaw Barlog (1972) im Repertoire.
Von August Everding haben sich nur noch zwei Klassiker auf den Bühnen gehalten: München spielt immer noch seine „Zauberflöte“ aus dem Jahr 1978, und die Berliner Staatsoper seine 1994er Produktion des gleichen Werkes. Die bietet aber noch mehr Museum, denn sie wird in den Bühnenbildern von Karl Friedrich Schinkel aus dem Jahr 1816 gespielt. Hier reist man also über 200 Jahre in die Zeit zurück.
An der Dresdner Semperoper besteht das Museumsangebot vor allem aus drei Inszenierung von Christine Mielitz. Da gibt es eine „La Boheme“ von 1983 und einen „Lohengrin“ aus dem gleichen Jahr. Die „Fidelio“-Inszenierung von 1989 ist berühmt geworden, weil sie während der friedlichen Revolution in der DDR entstand. Zudem besitzt die Semperoper den derzeit ältesten „Ring des Nibelungen“, nämlich Willy Deckers Inszenierung, die von 2001 bis 2003 entstand.
Das Alter dieser Produktionen bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie altmodisch sind: Der „Barbier von Sevilla“ in der Berliner Staatsopern-Produktion von Ruth Berghaus (1968) in der Ausstattung von Achim Freyer, oder die Ponnelle-Cenerentola kommen auch nach 50 Jahren immer noch so spritzig daher, als seien sie gerade erst frisch inszeniert worden. Entscheidend ist hier, dass die Spielleiter der die Inszenierung lebendig halten und sorgfältig einstudieren. Auf der anderen Seite muss man sagen, dass bloßes Dekorationstheater auch schnell langweilig wird, wenn die Akteure nur herumstehen und die Personenregie und die Psychologie der Figuren vernachlässigt wird.
Einen echten Retro-Boom gab es übrigens 2017: Damals wurden die Dresdner „Elektra“ (1986) von Ruth Berghaus und der Bayreuther „Tristan und Isolde“ (1993) von Heiner Müller an der Oper Lyon zu neuem Leben erweckt. Bei den Salzburger Osterfestspielen inszenierte Vera Nemirova „Die Walküre“ in den Bühnenbildern von Günther Schneider-Siemssen aus dem Jahr 1967, und am Prager Nationaltheater rekonstruierte Katharina Wagner die Bayreuther „Lohengrin“-Inszenierung ihres Vaters Wolfgang Wagner aus dem Jahr 1967.
Man hätte sich gewünscht, dass sich die deutschen Opernintendanten von dieser Retro-Welle inspirieren lassen würden und wichtige Inszenierung der Operngeschichte neu beleben würden. Doch das Retro-Jahr 2017 ging an den deutschen Bühnen spurlos vorbei. Dabei gäbe es vieles wiederzuentdecken und auf seine Aktualität zu überprüfen: Wie würden wir heute Wieland Wagners „Parsifal“ von 1951 oder Wolfgang Wagners Bayreuther „Ring des Nibelungen“ von 1970 erleben? Wie Luchino Viscontis Mailänder „La Traviata“ von 1955 oder Harry Kupfers Dresdner „Moses und Aron“ von 1975?
Rudolf Hermes, 24.3.2020
